28. Juli 2018 1 Likes

Riesentöterin auf der Flucht

Riesiger Comic, großer Film: „I Kill Giants“

Lesezeit: 4 min.

Neigen wir, die wir auf Science-Fiction und Co. abfahren, verstärkt zum Eskapismus, also zur Weltflucht? Sprich, begegnen wir allen Problemen des echten Lebens damit, dass wir stundenlang in fiktiven Existenzen, alternativen Wirklichkeiten, auf fernen Planeten und in anderen Zeiten abtauchen, statt uns der Realität zu stellen? Oder beschäftigen wir uns, unabhängig von den Miseren und Herausforderungen des Daseins, bloß gern und intensiv mit Dingen, die uns interessieren und unterhalten?


Der Comic

Und ist es dann letztlich nicht völlig egal, ob man sich für futuristische Science-Fiction-Universen, historische Schmöker, Krimi-Comics, eine Wikinger-Serie auf Netflix oder Sport begeistert? Nun, wenn die Weltflucht offensichtlich ist, sie eine regelrechte Textur aus Fantasie und Verdrängung über den Alltag legt und ferner mit einer extremen, gefährlichen Realitätsverzerrung einhergeht, dann treibt der Eskapismus wohl wirklich eher ungesunde Blüten. Wie im Fall der elfjährigen Barbara in „I Kill Giants“. Für die Verfilmung des Comics reichte es hierzulande aktuell nur zu einem Direkt-Release auf DVD und als Stream. Immerhin können sich deutsche Leser dank der Adaption nun endlich an einer Übersetzung des Comic-Meisterwerks von Autor Joe Kelly und Zeichner Ken Niimura erfreuen, das der Splitter Verlag zum Film in einem großen Hardcover mit massig Bonusmaterial auf Deutsch herausgebracht hat.

„I Kill Giants“ erzählt die Geschichte der jungen Außenseiterin Barbara Thorson, die sich wegen des Leids in ihrer Familie – besonders der schweren Krankheit ihrer Mutter – in die mal mehr, mal weniger eskapistische Fantasie einer Riesentöterin flüchtet. Zwerge und Feen gehören genauso zu Barbaras ‚persönlicher’ Weltsicht wie ein Hammer, den sie überall mit hin schleppt, um für den bevorstehenden Angriff eines gewaltigen Titanen gewappnet zu sein. Klar, dass die anderen Kids in der Schule Barbara für bekloppt halten. „Dungeons & Dragons“ zu mögen und alles über Fabelwesen zu wissen, wäre ja schon schräg und schwierig genug – aus Abfall und Tierkadavern stinkende Bannkreise zu basteln und sich selbst offensiv als Riesentöterin zu bezeichnen, macht die kluge, kratzbürstige Barbara jedoch zum ultimativen auserkorenen Opfer der Schulschläger. Traurigerweise kann das Mädchen, das gern Hasenohr-Hüte trägt und ständig vor der Realität in seinem Zuhause flieht, mit brutalem Mobbing besser umgehen als mit aufkeimender Freundschaft oder mit der ehrlichen Fürsorge durch die Schulpsychologin. Von all dem unbeeindruckt, rückt der verhängnisvolle Tag, an dem laut Barbara der Riese kommen soll, näher und näher …

Joe Kelly kennt man für Comics mit Superman, Spider-Man und vor allem Deadpool, den er in den späten 90ern zum Publikumsliebling machte – gut möglich, dass es ohne die lange von Kelly geschriebene Soloserie des Söldners mit der großen Klappe heute kein Deadpool-Manie gäbe. Zudem ist Kelly, der nach dem Studium durch das Stan-hattan Project von Marvel zur grafischen Literatur kam, Teil des Man of Action Studios, wo man Marken wie „Ben 10“ und „Big Hero 6“ entwickelte, während man an Animationsserien wie „Der ultimative Spider-Man“ und „Mega Man“ mitwirkt. „I Kill Giants“, das Kelly aufgrund der schweren Diabetes-Erkrankung seines Vaters ersann, erschien ursprünglich zwischen 2008 und 2009 in sieben US-Heften, bevor der Sammelband in den Staaten, aber auch in Frankreich und Japan folgte. Kelly macht Barbara auf wenigen Seiten zu einer schrulligen, liebenswerten Geek-Außenseiterin, die sich überraschenderweise nie duckt und sogar eine scharfe Zunge hat – Barbara denkt gar nicht an Vermeidung oder Anpassung. Durch die Sympathie, die man für sie empfindet, ist „I Kill Giants“ in jedem Moment eine enorm mitreißende und rührende Geschichte. Überdies versteht es Kelly, mit dem der Möglichkeit des Comics zu spielen, wo sich Metaphern, Realität und Eskapismus auf der Seite problemlos überlagern. Es passiert selten, dass man als Leser vor lauter Interpretationsmöglichkeit am Ende selbst nicht sicher ist, wo die Grenzen von Wahn und Wirklichkeit verlaufen.


Die Filmadaption

Der in Spanien geborene, in Tokio lebende Künstler Ken Niimura, der zuletzt seine eigene Koch-Fantasy-Serie „Umami“ bei Brian K. Vaughans und Marcos Martins panelsyndicate-Label lancierte, fängt Barbaras Leid und die Schichten ihrer individuellen Weltsicht gekonnt in Graustufenbildern ein. Seine Zeichnungen, die mit jeder Form von emotionaler oder kinetischer Energie der Geschichte zurechtkommen und sie in jedem Fall betonen und verstärken, stellen einen gelungenen Mix aus japanischen Manga, amerikanischen Independent-Comics und jüngeren europäischen Panel-Werken dar. Zusammen ergeben Niimuras Artwork und Kellys Geschichte bzw. Worte in jederlei Hinsicht einen Riesencomic über ein Mädchen, das auf den verschlungenen Pfaden von Don Quijote wandelt.

Die Verfilmung stammt von Regisseur Anders Walter, der davor die Kurzfilme „9 meter“ und „Helium“ drehte, und den „Harry Potter“-Produzenten um Chris Columbus, der übrigens das Vorwort zum Comic-Sammelband schrieb. Natürlich geht die filmische Interpretation von „I Kill Giants“ allein schon visuell deutlich eigene Wege, ohne dass die Intensität oder die Qualität der Geschichte darunter leiden würden. Madison Wolfe („Conjuring 2“), Imogen Poots („28 Weeks Later“), Sydney Wade („Wolfblood“) und Genre-Veteranin Zoe Saldana („Guardians of the Galaxy“, „Star Trek“) helfen mit ihrer guten schauspielerischen Leistung, „I Kill Giants“ auch in der Übertragung auf die große Leinwand bzw. ins Heimkino als etwas Besonderes und Bemerkenswertes hervorstechen zu lassen – nur recht und billig angesichts des gigantischen Comic-Ursprungsmaterials.

Joe Kelly, Ken Niimura: I Kill Giants • Splitter, Bielefeld 2018 • 240 Seiten • Hardcover: 29,80 Euro

Die Filmadaption ist gerade bei Koch Media erschienen – als DVD, Blu-ray, VOD und als DIN A4 Sonderedition inkl. DVD, Blu-ray, Postkarten und Graphic Novel mit Variant-Cover im Schuber. Ab dem 6. August gibt es den Film auch bei Netflix.

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