20. Oktober 2018 1 Likes

Verdammte Stadt

„Das Experiment“ ist der systemkritischste Science-Fiction-Roman von Arkadi und Boris Strugatzki

Lesezeit: 4 min.

„Das Rohmanuskript des Romans wurde in sechs Arbeitstreffen geschrieben (etwa siebzig volle Arbeitstage insgesamt), verteilt über zweieinviertel Jahre. Am 27. Mai 1972 setzten wir den Schlusspunkt, atmeten erleichtert auf und legten die ungewohnt dicke Mappe in den Schrank. Ins Archiv. Für lange Zeit. Für immer. Und war völlig klar, dass der Roman keine Chance hatte.“ Mit dieser Einschätzung hatten Arkadi und Boris Strugatzki recht: „Das Experiment“ wäre Anfang der Siebzigerjahre in der Sowjetunion unter Leonid Breschnew nicht nur von Verlagen abgelehnt worden, sondern auch eine Gefahr für das Leben seiner beiden Autoren gewesen. Wo in „Picknick am Wegesrand“ oder „Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang“ die Systemkritik in den Tiefen der Texte, zwischen den Zeilen, liegt, tritt sie in „Das Experiment“ offen zutage. Dank der Angewohnheit der Lektoren, Manuskripte zu kopieren und sie dann unter Freunden zirkulieren zu lassen, bestand Gefahr, dass der Text den Staatsorganen in die Hände fiel. Die hätten die Brüder ins Gefängnis gesteckt – oder Schlimmeres. Erst Ende der Achtzigerjahre, als die Perestroika Fahrt aufnahm, konnte „Das Experiment“, das im Original „Die verdammte Stadt“ heißt, veröffentlicht werden, was allerdings in zwei Teilen geschehen musste. Der erste Teil erhielt ein fiktives Erstveröffentlichungsdatum, damit es so aussah, als wäre alles schon vor Jahren abgesegnet worden. Doch nicht nur wegen seiner komplizierten Veröffentlichungsgeschichte ist „Das Experiment“ heute noch relevant.

Im Zentrum der Handlung steht Andrej Woronin, ein junger Astronom und überzeugter Sozialist aus Leningrad, der sich 1951 freiwillig für ein Experiment gemeldet hatte. Jetzt lebt er in einer namenlosen Stadt, die sich ständig verändert; Gebäude tauchen auf und verschwinden wieder; die „Sonne“ wird nach Belieben ein- und ausgeschaltet; und alle Stadtbewohner kommen aus unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Orten, können sich aber dennoch unterhalten. Tagtäglich geschehen seltsame Dinge – einmal wird die Stadt von einer Horde Paviane überfallen, und niemand weiß so recht, was zu tun ist. Die Einwohner gehen einfach davon aus, dass alles Teil des Experiments ist, obwohl niemand wirklich weiß, worin dieses Experiment besteht. Dass jedem Einwohner in regelmäßigen Abständen neue Jobs zugewiesen werden, wird ebenfalls Teil des Experiments sein, denkt sich Andrej, wenn er als Müllfahrer seine Runde dreht und abends mit seinen Freunden, dem Juden Isja Katzmann und dem Nazi Fritz Geiger, über die bestmögliche menschliche Gesellschaftsordnung philosophiert. Im Laufe des Romans wird Woronin dann Kriminalbeamter, dem es gelingt, das mysteriöse rote Gebäude ausfindig zu machen, das immer wieder in der Stadt auftaucht. Darin sitzt Josef Stalin, mit dem er schließlich eine Partie Schach spielt. Danach wird er Chefredakteur einer Zeitung und unterstützt in dieser Funktion eher aus Versehen seinen Freund Fritz, der sich in einem Putsch zum Bürgermeister und Woronin zum Forschungsminister und persönlichen Berater macht. Am Ende schickt Geiger Woronin auf eine Expedition in den Norden, wo die Antistadt liegen soll, deren Bewohner – angeblich, denn gesehen hat sie noch niemand – die Feinde der Stadt sind. Der Weg dorthin wird Andrej (und seinen Freund Isja) für immer verändern …

Es ist offensichtlich, warum „Das Experiment“ erst nicht veröffentlicht werden konnte: Andrej Woronins einfache, ganz natürlich anmutende Wandlung vom braven Komsomolzen, vom Leninist, zu einem hochgestellten Beamten, einem Bonzen, lässt sich nicht hinter Allegorien verstecken; ja, nicht einmal hinter all den kafkaesken Ereignissen in der Stadt. Und das geschieht dann auch noch an der Seite eines notorischen Nazis! Gibt es da etwa Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden historischen Erzfeinden? Andrejs Werdegang kann auch heute noch bei vielen angeblichen „Kämpfern für das Wohl des einfachen Volkes“ beobachtet werden, diesseits und jenseits der Grenze, die man „Eiserner Vorhang“ genannt hat. Der Grund dafür ist, auch das wird in „Das Experiment“ deutlich, eine Angst vor dem Chaos, das einerseits Freiheit, andererseits aber auch Zerstörung mit sich bringt. Jeder, der versucht, dieses Chaos zu bekämpfen und eine Ordnung durchzusetzen, wird unweigerlich und unwiderruflich zu einem machthungrigen Helfer der Tyrannei, der sich keinen Deut mehr um einzelne Individuen schert.

Für die Strugatzkis war Science-Fiction nicht einfach nur eine Methode, um verbotene Gedanken allegorisch auszusprechen, sondern sie war die einzige angemessene Antwort auf den moralischen und technischen Zusammenbruch ihrer Zeit. Nicht jeder Seitenhieb auf das untergegangene Sowjetregime wird noch verstanden werden, aber da, wo es darauf ankommt, sind die Worte der Strugatzkis bis heute kristallklar.

 

Arkadi und Boris Strugatzki: Das Experiment • Roman • Aus dem Russischen von Reinhard Fischer • Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 • Taschenbuch • 624 Seiten • € 9,99 • im Shop

Dieser Roman ist auch im zweiten Band der Strugatzki-Werkausgabe (im Shop) enthalten.

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