29. Oktober 2018 1 Likes

Die Freiheit hat ihren Preis

Eine Leseprobe aus Paolo Bacigalupis visionärem Zukunftsroman „Tool“

Lesezeit: 10 min.

Mit seiner „Schiffsdiebe“-Trilogie (im Shop)feierte der amerikanische Autor Paolo Bacigalupi international große Erfolge. Nun ist mit „Tool“ (im Shop)der dritte und letzte Band der Science-Fiction-Saga erschienen, in dem uns Paolo Bacigalupi wieder in seine faszinierende Zukunftswelt entführt. Tool lebt in einem Land, das früher einmal Amerika war. Doch nach Klimakatastrophen und Bürgerkriegen ist dort nichts mehr, wie es einmal war. Auch Tool ist kein normaler junger Mann, sondern ein Halbmensch, dessen DNA mit der von Raubkatzen gekreuzt wurde, um ihn zu einer perfekten Killermaschine im Dienste des Systems zu machen. Doch Tool kann entkommen und entdeckt etwas, von dem er niemals hätte erfahren dürfen: den freien Willen. Er schließt sich einer Gruppe von Rebellen an, steigt schließlich sogar zu ihrem Anführer auf und verschreibt sein Leben dem Kampf gegen die Ungerechtigkeit. Anbei stellen wir Ihnen eine erste Leseprobe des Romans zur Verfügung.

 

Tool lauschte mit gespitzten Ohren auf die fernen Schüsse, das ungezwungene Geplauder der Versunkenen Städte.

Es war eine polyglotte Sprache, doch Tool verstand alle Stimmen. Die scharfen Ausrufe von AK-47- und M-16-Sturmgewehren. Das primitive Gebrüll der Kanonen Kaliber 12 und 10. Das gebieterische Knallen der Jagdgewehre Kaliber 30–06 und das Ploppen der .22er. Und natürlich auch das sich nähernde Schrillen der 999er, die Stimme, die alle Sätze mit ihrer dröhnenden Interpunktion abschloss.

Es war eine vertraute Unterhaltung, die hin und her wogte – Frage und Antwort, Herausforderung und Erwiderung –, doch im Laufe der vergangenen Wochen hatte sich ihr Charakter verändert. Immer häufiger sprachen die Versunkenen Städte ausschließlich die Sprache Tools. Den Kugeldialekt seiner Truppen, den Gefechtsslang seines Rudels.

Der Krieg wütete weiter, doch die Stimmen verschmolzen zu einem einzigen harmonischen Triumphgeheul.

Natürlich gab es auch noch andere Geräusche, und Tool hörte sie alle. Selbst im Atrium seines Palasts, weit entfernt von der Front, konnte er den Kriegsverlauf verfolgen. Mit seinen großen Ohren hörte er besser als ein Hund, und sie waren stets aufgestellt, offen und empfänglich, und verrieten ihm vieles, das Menschenohren verborgen blieb, so wie auch seine übrigen Sinne mehr wahrnahmen als die Sinne der Menschen.

Er wusste, wo seine Soldaten standen. Er witterte jeden einzelnen. Er erspürte ihre Bewegungen mittels der Luftströmungen, die sein Fell und seine Haut berührten. In der Dunkelheit konnte er sie sehen, denn seine Augen waren empfindlicher als die einer Katze in finsterer Nacht.

Die Menschenwesen, die er anführte, waren blind und taub für die meisten Dinge, doch er leitete sie an und bemühte sich, sie in etwas Nützliches zu verwandeln. Er hatte seinen Menschenkindern das Sehen, Riechen und Hören beigebracht. Er hatte sie gelehrt, sich ihrer Augen, Ohren und Waffen zu bedienen, damit sie kämpften wie Reißzähne, Klauen und Fäuste. Einheiten. Züge. Kompanien. Bataillone.

Eine Armee.

Durch die Lücke in der geborstenen Kuppel seines Palasts sah Tool die Bäuche der Gewitterwolken, orangefarben angeleuchtet von den wütenden Bränden, die den letzten verzweifelten Versuch der Gottesarmee begleiteten, das Vorrücken seiner Truppen aufzuhalten, indem sie eine Frontlinie der Selbstzerstörung zogen.

Donner grollte. Blitze durchzuckten die Wolken. Ein Sturm braute sich zusammen, der zweite in ebenso vielen Wochen, doch auch er würde die Gottesarmee nicht retten können.

Hinter Tool näherte sich jemand über die marmornen Flure. Der humpelnde Gang und das Schleifen der Füße verrieten, dass es Stub war. Tool hatte den Jungen in den Kommandostab befördert, weil er hart, aufgeweckt und klug war und seine Tapferkeit beim Sturm der Barrikaden auf der K Street unter Beweis gestellt hatte.

Koolkat hatte den Angriff geleitet, als die Gottesarmee durchzubrechen und die damals noch fragile Hoffnung zu zerstören drohte, und war dabei ums Leben gekommen. Neben ihm hatte Stub einen Fuß verloren, als er auf eine Mine getreten war, doch er hatte das Bein abgebunden, sich weiter vorwärtsgeschleppt und seine Kameraden nach dem Tod ihres Befehlshabers angefeuert. Wildentschlossen, engagiert und tapfer.

Ja, es war Stub – das waren sein Geruch und sein Gang –, doch da war noch etwas anderes – der Geruch von gerinnendem Blut, dem Vorboten von Aas.

Stub wollte Meldung erstatten.

Tool schloss sein gutes Auge und atmete in tiefen Zügen. Er genoss den Duft und den Moment – den beißenden Gestank von Schießpulver, das Donnergrollen und die drückende Schwüle des heraufziehenden Unwetters, den Ozongeruch, den die Blitze erzeugten. Er atmete tief ein, versuchte den Augenblick des Triumphs in seinem Bewusstsein zu verankern.

So viele Erinnerungen waren bruchstückhaft, in Kriegen und Gewalt verloren gegangen. Seine persönliche Geschichte war ein kaleidoskopisches Durcheinander von Bildern, Gerüchen und aufgewühlten Emotionen, vereinzelten Explosionen der Freude und des Grauens, vieles davon blockiert und inzwischen unzugänglich. Dieses Mal aber – dieses eine Mal – wollte er sich den Moment in seiner Gesamtheit einprägen. Ihn schmecken, riechen und hören. Bis er ihn ganz ausfüllte, ihm das Rückgrat straffte, ihn hoch aufrichtete. Bis er seinen Muskeln Kraft verlieh.

Triumph.

Der Palast, in dem er sich befand, war eine Ruine. Einst war er prachtvoll gewesen mit seinen Marmorböden, seinen majestätischen Säulen, seinen alten, meisterlich ausgeführten Ölgemälden, und überblickte dank der zerbombten Mauer die Stadt, um die er kämpfte. Er konnte bis zum Meer sehen, das gegen die Eingangstreppe schwappte. Der Regen drang ein und bildete Pfützen auf dem Boden. Fackeln flackerten in der Feuchte und ermöglichten es den Menschen, einen Hauch dessen zu sehen, was Tool ohne fremde Hilfe wahrnahm.

Eine traurige Ruine, und doch ein Ort des Triumphs.

Stub wartete respektvoll.

»Du hast Neuigkeiten«, sagte Tool, ohne sich umzudrehen.

»Ja, Sir. Sie sind erledigt. Die Gottesarmee – sie ist besiegt.«

Tools Ohren zuckten. »Weshalb höre ich dann noch immer Gewehrfeuer?«

»Die Soldaten räumen noch auf«, antwortete Stub. »Der Gegner begreift nicht, dass er geschlagen ist. Er ist dumm, aber zäh.«

»Du glaubst wirklich, dass sie besiegt sind?«

Der Junge schnaubte. »Also, das soll ich Ihnen von Perkins und Mitali geben.«

Tool wandte sich um. Stub hob den Gegenstand in seiner Hand hoch.

General Sachs’ abgetrennter Kopf schaute mit blinden Augen auf die Umgebung. Ohne den Körper wirkte er verloren. Der Gesichtsausdruck war irgendwo zwischen Bestürzung und Entsetzen erstarrt. Das grüne Schutzkreuz, das der Warlord sich auf die Stirn gemalt hatte, war mit Blut verschmiert.

»Ah.« Tool nahm den Kopf entgegen und wog ihn in der Hand. »Der Eine Wahre Gott hat ihn offenbar nicht gerettet. War also doch kein Heilsbringer.«

Schade, dass er nicht dabei gewesen war und die Gelegenheit versäumt hatte, dem Mann das Herz aus der Brust zu reißen und es zu verspeisen. Sich von seinem Feind zu nähren. Der Wunsch danach war stark. Dieser Triumph aber war den Klauen vorbehalten. Er war jetzt General und sandte Fäuste, Klauen und Reißzähne in die Schlacht, so wie er einst entsandt worden war, und deshalb entgingen ihm der Adrenalinstoß des Gefechts und das warme Blut des Gemetzels, das lustvoll in seinen Mund spritzte …

Tool seufzte bedauernd.

Es passt nicht zu deiner Rolle, dem Gegner den Todesstoß zu versetzen.

Eine kleine Freude aber war ihm geblieben: als General einem anderen General in die Augen zu blicken und die Kapitulation entgegenzunehmen.

»›Wider die Natur‹, hast du einmal zu mir gesagt«, murmelte Tool.

»›Ein Scheusal‹.« Er hielt den Kopf höher und blickte in Sachs’ entsetzte Augen. »›Der zusammengeflickte Frankenstein, der nicht mal stehen kann‹. Und natürlich hast du mich als ›Gotteslästerung‹ bezeichnet.«

Tool bleckte zufrieden die Zähne. Der Mann hatte die Wahrheit geleugnet bis zuletzt, hatte sich für ein Kind Gottes gehalten, erschaffen nach dem Ebenbild Gottes, vom Himmel beschützt vor solchen wie Tool. »Offenbar hat der Eine Wahre Gott die ›Gotteslästerung‹ begünstigt.«

Selbst jetzt noch meinte Tool, einen Schimmer von Verleugnung in den Augen des Generals zu erkennen. Die heulende Wut über die Ungerechtigkeit, gegen ein Wesen kämpfen zu müssen, das schneller, intelligenter und zäher erschaffen worden war als der arme menschliche Warlord, der geglaubt hatte, er sei gesegnet.

Dieser einfache Mann hatte nicht wahrhaben wollen, dass Tool für das Ökosystem der Schlacht optimiert worden war. Tools Götter hatten sich mehr für die moderne Kriegsführung interessiert als der Gegenstand der Anbetung dieses erbärmlichen Mannes. So war das eben mit der Evolution und der Konkurrenz. Der eine entwickelte sich weiter; der andere starb aus.

Andererseits war Evolution noch nie die Stärke des Generals gewesen.

Manche Spezies sind die geborenen Verlierer.

Ein gewaltiger Donner erschütterte den Raum. Tools 999er. Der Palast wurde bis auf die Grundfesten erschüttert.

Stille legte sich über die Stadt.

Und blieb dort.

Stub schaute verwundert zu Tool auf. Tools Ohren zuckten, lauschten. Nichts. Kein Gewehrfeuer. Keine Granatwerfer. Tool spannte seine Sinne an. Die Luft war wie elektrisch aufgeladen, als wartete alles darauf, dass das Wüten weiterging – doch in den Versunkenenden Städten herrschte endlich Stille.

»Es ist vorbei«, murmelte Stub ehrfurchtsvoll. Und mitkraftvollerer Stimme sagte er: »Die Versunkenen Städte gehören Ihnen, General.«

Tool lächelte den Jungen freundlich an. »Sie waren schon immer mein.«

Ringsumher hatten die jungen Angehörigen von Tools Kommandostab mit der Arbeit innegehalten. Einige verharrten mitten in der Bewegung. Auch sie lauschten und warteten auf die nächste Runde der Gewalt, doch sie hörten nur Frieden.

Frieden. In den Versunkenen Städten.

Tool holte tief Luft und schwelgte im Augenblick, dann hielt er inne und runzelte die Stirn. Seltsamerweise rochen seine Soldaten nicht nach Sieg, sondern nach Angst.

Er fasste Stub in den Blick. »Was hat das zu bedeuten, Stub?«

Der Junge zögerte. »Wie geht es jetzt weiter, General?«

Tool blinzelte.

Wie geht es weiter?

Tool sah das Problem. Wie er so seinen Kommandostab musterte – seine besten, klügsten Leute, die Elite –, lag es offen zu Tage. Ihre Gesichter und ihr Geruch verrieten alles. Stub, der Tapfere, der weiterkämpft hatte, obwohl er den Fuß verloren hatte. Sasha, sein Fausthandschuh, der selbst die unerschrockensten Rekruten einschüchterte. Alley-O, der ein so tüchtiger Schachspieler war, dass Tool ihn in den Stab aufgenommen hatte. Mog und Mote, die blonden Zwillinge, die die Blitzklauen lenkten, mutig und tapfer, fintenreich unter Feuer.

Diese jungen Menschen waren klug genug, um den Unterschied zwischen kalkuliertem Risiko und Tollkühnheit zu erkennen, dabei waren sie noch keine zwanzig Jahre alt. Einige hatten noch Flaum im Gesicht, und Alley-O war gerade mal zwölf …

Sie sind Kinder.

Die Warlords der Versunkenen Städte hatten die formbaren Talente der Jugend stets zu schätzen gewusst. Wilde Loyalität war eine typische Eigenschaft von Kindern; ihr Wunsch nach einer konkreten Aufgabe war leicht zu formen. Alle Soldaten der Versunkenen Städte waren in jungen Jahren rekrutiert und mit Ideologien und absoluten Wahrheiten indoktriniert worden, die ohne Schattierungen und Perspektive auskamen. Es gab nur Richtig und Falsch, Verräter und Patrioten. Gut und Böse. Eindringlinge und Einheimische. Ehre und Loyalität.

Rechtschaffenheit.

Flammende Rechtschaffenheit ließ sich bei jungen Menschen leicht kultivieren, deshalb gaben sie ausgezeichnete Waffen ab. Sie waren perfekte fanatische Mordwerkzeuge, geschärft durch die Beschränktheit ihrer Auffassung von der Welt.

Gehorsam bis in den Tod.

Tool war von Militärwissenschaftlern erschaffen worden, um sklavisch zu dienen. Man hatte ihm die DNS unterwürfiger Spezies eingepflanzt, ihm mit genetischen Kontrollmechanismen und unerbittlichem Training blinden Gehorsam eingeprägt, doch seiner Erfahrung nach waren junge Menschen weit leichter zu formen. Im Grunde waren sie gehorsamer als Hunde.

Wenn sie frei sind, bekommen sie Angst.

Was jetzt?

Tool blickte finster auf General Sachs’ Kopf nieder, den er noch immer in der Hand hielt. Was tat ein Schwert, wenn all seine Gegner enthauptet waren? Welchen Nutzen hatte eine Waffe, wenn es keinen Gegner mehr gab, auf den man sie abfeuern konnte? Welche Aufgabe blieb dem Soldaten, wenn der Krieg vorbei war?

Tool reichte Stub die blutige Trophäe zurück. »Leg das zum Rest.«

Stub nahm den Kopf behutsam entgegen. »Und dann?«

Tool hätte ihn am liebsten angeschrien: Mach dein Ding! Errichte deine eigene Welt! Ihr habt mich erschaffen! Weshalb sollte ich euch Aufbauhilfe leisten?

Doch das war ein unfreundlicher Gedanke. Sie waren nun mal so. Sie waren auf Gehorsam getrimmt und hatten darüber die Orientierung verloren.

»Wir werden die Städte wieder aufbauen«, sagte Tool schließlich.

Erleichterung zeichnete sich in den Mienen der jungen Soldaten ab. Wieder einmal waren sie vor der Ungewissheit errettet worden. Ihr Kriegsgott war bereit, sich der erschreckenden Herausforderung des Friedens zu stellen.

»Informiert die Truppen. Unsere neue Aufgabe ist der Wiederaufbau.« Tool hob die Stimme. »Die Versunkenen Städte gehören jetzt mir. Dies ist … mein Königreich. Ich werde dafür sorgen, dass es gedeiht. Das ist jetzt unsere Mission.«

Noch während diese Worte aussprach, fragte sich Tool, ob das überhaupt machbar war.

Er konnte mit seinen Klauenhänden Fleisch zerfetzen, er konnte mit einem Gewehr Menschen niedermähen, er konnte Knochen mit den Zähnen zu Staub zermahlen. Mit einer Faust von Konstrukten konnte er in ein Land eindringen, eine fremde Küste mit Mord und Totschlag überziehen und siegreich daraus hervorgehen – wie aber stand es mit dem Krieg des Friedens?

Was war von einem Krieg zu halten, in dem niemand starb, und von Siegen, die bemessen wurden nach vollen Bäuchen, warmen Feuern und …

Ernteerträgen?

Tool bleckte seine Tigerzähne und knurrte angewidert.

Stub wich eilig zurück. Tool bemühte sich, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen.

Töten war einfach. Jedes Kind konnte ein Killer werden. Aber das Pflügen von Feldern? Säen und Ernten? Wo waren die Menschen, die sich darauf verstanden? Wo waren die Menschen, die wussten, wie man Dinge mit Geduld und Ausdauer bewerkstelligte?

Sie waren tot. Oder geflohen. Die Klügsten waren längst verschwunden.

Er würde eine ganz andere Art von Kommandostab brauchen. Er musste irgendwie Ausbilder herbeischaffen. Experten. Eine Faust von Menschen, die sich nicht auf den Tod verstanden, sondern auf das Leben …

Tool stellte die Ohren auf.

Die sanfte Stille der Versunkenen Städte im Frieden schuf Raum für ein neues Geräusch. Eine Art Pfeifen, hoch in der Luft.

Ein erschreckendes Geräusch, verknüpft mit fernen Erinnerungen.

Vertraut.

 

Paolo Bacigalupi: „Tool“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Norbert Stöbe ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 384 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

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