9. April 2020

Bitte draußen bleiben

Eine Leseprobe aus Basma Abdel Aziz' beeindruckendem Zukunftsroman „Das Tor“

Lesezeit: 8 min.

Lange Warteschlangen, verzweifelte Gesichter, kein Vorwärtskommen. Wenn man in diesen Tagen die Nachrichten verfolgt und sieht, wie sich Menschen in den USA vor den Ämtern und Supermärkten einreihen, um sich arbeitslos zu melden oder Lebensmittel einzukaufen, bekommt der Debütroman der ägyptischen Autorin und Aktivistin Basma Abdel Aziz mit einem Mal eine erschreckend realen Beigeschmack. „Das Tor“ (im Shop) spielt in einer nicht näher benannten Zukunft in einem nicht näher benannten Land im Nahen Osten. Dort brauchen die Menschen für alles im Leben die Genehmigung der Regierung. Um diese zu erhalten, müssen sie sich vor einem geheimnisvollen Tor anstellen, das jedoch niemals öffnet. Dennoch – und das ist das Wunderbare an diesem Roman – geben die Figuren niemals auf. Denn eines kann den Menschen weder eine totalitäre Staatsform noch eine globale Pandemie nehmen: die Hoffnung.

„Das Tor“ ist ab dem 13.04.2020 auf Deutsch erhältlich – auch als E-Book.

 

 

Die Warteschlange

 

Yahya stand in der sengenden Hitze inmitten der Warteschlange, die sich vom Beginn der breiten Straße bis zum Tor erstreckte. In einer geschlagenen Stunde hatte er sich nur zwei Schritte vorwärts bewegt, aber nicht etwa, weil einer der Wartenden sein Anliegen erfolgreich zu einem Abschluss gebracht hatte, sondern weil eine Person, die zum ersten Mal zum Tor gekommen zu sein schien und noch keine Erfahrung hatte, von Überdruss und Verzweiflung gepackt, ihren Platz verlassen hatte.

Die Sonne brannte auf seine linke Körperhälfte und teilte ihn, wie mittags immer, in zwei Hälften. Sein Körper fühlte sich schwer an, doch Yahya gab seinen Platz nicht auf. Vor ihm stand eine groß gewachsene Frau, die sich immer wieder umsah. Sie trug einen dünnen schwarzen Dschilbab und hatte ein schwarzes Tuch auf dem Kopf, das ihr zu beiden Seiten des unbedeckten Halses in Falten herunterhing und mit ihren Hautfalten und Runzeln harmonierte. Der junge Mann, der hinter Yahya stand, fragte, wann das Tor öffnen würde. Yahya zuckte nur mit den Schultern, um seine Ahnungslosigkeit zum Ausdruck zu bringen, zog die Lippen in die Breite und sagte kein einziges Wort. Er wusste wirklich nicht, wann das geschehen würde. Noch immer verließ er jeden Morgen das Haus und schleppte seine Füße, seinen Bauch und sein schweres Becken vorwärts, um sich in die Schlange zu stellen, ohne das Tor je zu erreichen.

Der Teint der betagten Frau war genauso dunkel wie ihre Kleidung. Sie war eine schlanke, aber kräftige Person. Ihrer zähen Konstitution und ihren milchweißen Augen nach schien sie aus dem tiefsten Süden zu kommen. Sie drehte sich halb nach hinten um und musterte Yahya mit einem durchdringenden Blick, um ihn einer raschen Beurteilung zu unterziehen. Offenbar fand sie sein Aussehen akzeptabel, und so begann sie unvermittelt zu reden. Sie sei gestern zum ersten Mal zum Tor gekommen, sagte sie, sie wolle eine Beschwerde einreichen und sich gleichzeitig eine beglaubigte Bescheinigung ausstellen lassen. Sie schwieg kurz, um ihm die Möglichkeit einer Nachfrage einzuräumen, aber Yahya blieb still. Sein Desinteresse brachte sie jedoch nicht zum Schweigen; sie erzählte weiter, dass es ihr zum ersten Mal nicht möglich gewesen war, staatliches baladi-Brot zu erstehen, das sie seit Jahren kaufte. Sie blickte ihn ein weiteres Mal an, in der Erwartung, dass er ein wenig neugierig geworden sei, doch Yahya war in Gedanken und hörte ihr überhaupt nicht zu. Da wandte sie verärgert den Kopf ab, blickte sich erneut um, und kaum hatte sie bei anderen Nachbarn offene Ohren gefunden, nahm sie das Gespräch wieder auf.

Die beleibte Frau, die vor der Alten stand, rückte sich mit beiden Händen ihr türkisfarbenes Kopftuch zurecht, dann trat sie näher, weil die Geschichte mit der Beschwerde ihr Interesse geweckt hatte. Sie hatte ein junges Gesicht und mochte wohl um die dreißig Jahre alt sein, hatte schmale Augenbrauen, eine scharfe Nase und eine gepflegte Haut. Mitfühlend fragte sie die Alte, ob Brot mittlerweile tatsächlich so schwer zu bekommen sei. Diese legte sofort in einem breiten Akzent los: »Dieser gemeine Hundesohn … Ich bin doch seine Kundin, seit zehn Jahren kaufe ich täglich mein Brot bei ihm, und was passiert dann? Als ich wie jeden Morgen zu ihm gehe, um meine zwei Fladen zu holen, fragt der mich doch glatt: ›Wen hast du gewählt?‹ Ich habe gesagt: ›Ich hab ein Kreuz bei der Pyramide gemacht.‹ Da wurde er wütend, fletschte die Zähne und meinte: ›Ich kenne euch, Leuten wie euch kommt man nur mit der Peitsche bei. Hab ich dir nicht die Veilchen-Liste gegeben, damit du einen Kandidaten davon auswählst?‹ Ich habe nichts darauf gesagt und ihm das Geld gereicht, doch er hat es auf den Boden geschleudert, mir die zwei Fladen aus der Hand gerissen und geschrien: ›Wir haben kein Brot! Und komm bloß nicht wieder!‹ Der Schuft hat nicht den geringsten Anstand! Ich bin dann zur europäischen Bäckerei gegangen, aber die hatte zu. Am nächsten Morgen ging ich früh los zum Bäcker im Suk. Der hatte schon Wind von der Geschichte bekommen, das Gleiche gesagt und mir auch das Brot verweigert. Eine Nachbarin aus meiner Straße meinte: ›Wenn das so ist, musst du beim Tor vorsprechen.‹ Und außerdem solle ich vorher noch ein Dokument beantragen, ich weiß nicht mehr, wie es heißt. Es muss einen offiziellen Stempel tragen, denn das würde man ganz sicher von mir verlangen, wenn ich meine Beschwerde einreiche.« Sie schob ihre Hand in den weiten Dschilbab und zog eine kleine Karte hervor, auf der geschrieben stand: »Bescheinigung über die Gültigkeit der Staatsangehörigkeit«.

Die junge Frau klopfte der Alten tröstend auf die Schulter. Die Lage habe sich verändert, und es sei wohl auch nicht so bald mit einer Besserung zu rechnen. Die Politik habe sich in die Köpfe der Menschen gefressen, und jetzt würden sie sich gegenseitig fressen. Sie selbst habe auch die Pyramide gewählt, aber bis jetzt habe sie noch keine so peinliche Situation erlebt wie diese, sonst wäre sie wohl vor Scham gestorben. Vielleicht weil sie niemandem gegenüber erzählt habe, wen sie gewählt hatte, so wie die alte Frau. Sie habe, ehrlich gesagt, Angst, und ihre gewohnte Achtsamkeit und Vorsicht hätten sie schweigen lassen. In den letzten Monaten habe sie sogar einen alten Trick angewandt, um sich selbst nicht in eine unangenehme Lage zu bringen und nicht auf die Frage antworten zu müssen, die sich wie die Pest unter den Menschen ausgebreitet habe: »Wen hast du gewählt?« Ihre immer gleiche Reaktion sei gewesen, die Frage zurückzugeben und dann auf die erhaltene Antwort mit einem augenzwinkernden Lächeln zu sagen: »Die habe ich auch gewählt.« Vor ein paar Tagen sei ihr allerdings ein Fehler unterlaufen, als eine Schülerin ihrer Arabischklasse ihr glücklich einen von ihr verfassten Aufsatz überreicht habe. Es hatte sich dabei um eine ganz normale Hausaufgabe gehandelt, für die alle Schülerinnen zusätzliche Punkte zu den Punkten der monatlichen Prüfungen erhielten. Das Mädchen hatte zunächst ausführlich und ganz hervorragend über den Bezirk geschrieben, in dem es lebte. Dann hatte es sich mit der Situation des Landes und der allgemeinen Entwicklung in der Region befasst. Tatsächlich habe das Mädchen genau das geschrieben, was sie, Ines, selbst auch denke, doch plötzlich seien ihr angesichts der Qualität des Textes Zweifel gekommen, ob das Mädchen ihn alleine verfasst hatte. Sie hatte geargwöhnt, eines der älteren Geschwister oder ein Elternteil hätte den Aufsatz geschrieben und die Gedanken ausformuliert. Doch das Mädchen beteuerte steif und fest, die Aufgabe ohne Hilfe erledigt zu haben. Sie habe dem Mädchen geglaubt und ihm eine sehr gute Note gegeben. In der Klasse habe sie die Mitschüler aufgefordert zu klatschen und das Mädchen gebeten, den Aufsatz vorzulesen. Daraufhin habe sie die Schülerin als ein Beispiel für überdurchschnittliche und vortreffliche Leistungen gelobt.

Am nächsten Tag sei das Mädchen der Schule ferngeblieben. Der Inspektor mit der leisen Stimme sei zum Verwaltungsbüro gekommen und habe mit finsterer Miene den Lebenslauf der Lehrerin Ines und ihre Einstellungsbegründung verlangt. Dann habe er der Rektorin mitgeteilt, die Papiere seien unvollständig und sie, Ines, müsse zum Tor gehen, um ebenfalls eine Bescheinigung über die »Gültigkeit der Staatsangehörigkeit« zu beantragen, andernfalls müsse er ihre Akte an das Verwaltungsbüro weiterleiten. Sie würde daraufhin einer erneuten Befragung und Beurteilung unterzogen werden, und man würde nochmals prüfen, ob es im allgemeinen Interesse sei, dass sie weiter unterrichtete. Bevor er die Schule verließ, habe er der Rektorin eine Kassette gegeben, von der Ines später erfahren hatte, dass darauf die Stimme des Mädchens zu hören gewesen war, wie es den Aufsatz vorlas.

Ines dachte darüber nach, dass sich, anders als bei anderen Menschen, ihr Lebenstraum seit ihrer Kindheit nicht geändert hatte. Sie hatte immer Lehrerin werden wollen. Zu Hause hatte sie die Puppen auf dem Bett aufgereiht, sich das Lineal geschnappt und begonnen, die Lektionen zu erklären. Einer Puppe nach der anderen hatte sie eine Frage gestellt und im Geist den Antworten gelauscht. Als sie etwas älter geworden war, hatte sie die Nachbarskinder im Treppenhaus aufgestellt, einen Stock in der Hand, den sie von einem herabhängenden Ast abgebrochen hatte, und wieder ihr Lieblingsspiel gespielt. Sie hatte ihren Schülern als Belohnung bunte Kieselsteine geschenkt oder ihnen zur Strafe für ihre Unaufmerksamkeit auf die Handflächen geschlagen. Und jetzt kam sie sich selbst wie eine Schülerin vor, die einen großen Fehler begangen hatte und nun auf das Urteil wartete. Vielleicht würde ihr unbedachtes Verhalten verhindern, dass sie in Zukunft die einzige Arbeit, die sie liebte, weiter würde ausüben dürfen. Verstohlen schaute sie zu den Umstehenden in der Schlange, bevor sie eine Weile das schmale Gesicht Yahyas betrachtete, der in Gedanken versunken war.

Yahya hatte sich kein einziges Mal eingemischt, seit die Alte zu reden begonnen hatte. Mit dem Rücken zu ihr nahm er gedankenverloren weder ihre Geschichten noch die Gespräche der anderen Wartenden wahr. Trotzdem hörte die Alte nicht auf, zu schnattern und zu versuchen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, gleichsam als sähe sie darin eine Herausforderung, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Ines beobachtete die Szene und sagte leise: »Jeder hat genug eigene Probleme.«

 

Basma Abdel Aziz: „Das Tor“ ∙ Roman ∙ Aus dem Arabischen von Larissa Bender ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2020 ∙ 288 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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