22. August 2020 3 Likes

„Tenet“ - Zwischen WTF? Und WOW!

Der 11. Film von Christopher Nolan ist ein typischer Nolan-Film

Lesezeit: 3 min.

Was soll man sagen über einen Film, von dem die Filmindustrie nicht weniger als die Rettung des Kinos erhofft? Der Film, der zig mal verschoben wurde und nun zumindest in manchen europäischen Ländern, mit Abstandsregelung und Mundschutz bis zum Platz, startet. Wird es Christopher Nolan noch einmal gelingen, dass Kino neu zu erfinden? Wird es der britische Erfolgsregisseur schaffen, seine Hits wie „The Dark Knight“, „Inception“ oder zuletzt „Dunkirk“ zu überbieten? Ehrlicherweise muss die Antwort lauten: Nein. Was aber in keiner Weise bedeutet, dass „Tenet“ ein schlechter Film ist; im Gegenteil.

Um es ganz böse zu sagen: Ein wenig leidet Nolan am „M. Night Shyamalan“-Effekt, etwas, dass nur Regisseure von sich behaupten können, deren Filme so markant sind, das sie und vor allem die Art und Weise, wie sie erzählen, mit jedem Film mehr drohen, zum Klischee zu werden. Bei Shyamalan waren das die Twist-Enden, auf die die Zuschauer bald so sehr warteten, dass sie sich kaum noch auf das Neue einließen, dass sie trotz allem erwartete. So schlimm ist es bei Nolan nicht, keine Sorge, aber wenn man da in „Tenet“ sitzt, sieht, wie schöne Menschen in perfekt sitzender Kleidung, in teuren Autos an atemberaubenden Kulissen vorbeifahren, von „invertierten Materialien“ oder einer „temporären Zangenbewegung“ sprechen, dazu auf der Tonspur ein unheilvoll dröhnendes Brummen die Bilder anzutreiben scheint, einen unwiderstehlichen Sog erzeugen soll, dann kann man inzwischen kaum anders als denken: Ja, schon geil, aber eben auch schon in etlichen Nolan-Filmen so oder so ähnlich gesehen oder gehört.

Der Sense of Wonder, wie in etwa der unfassbar dichte, treibende Beginn von „The Dark Knight“ auslöste oder der atemberaubende Moment, wenn in „Inception“ die Häuser von Paris übereinander gelegt wurden: Solche filmischen Höhepunkte erreicht Nolan dieses Mal nicht. Nach gut einer Stunde von „Tenet“, nach etlichen starken Setpieces, in denen Jumbo Jets Hangars zur Explosion bringen, Autos wie Bälle über einer Autobahn hüpfen oder ein riesiger, vollbesetzter Konzertsaal von schwer bewaffneten Spezialeinheiten gestürmt wird, macht sich gar ein wenig Ratlosigkeit breit. Wohin soll das alles führen, was bezweckt Nolan mit der gleichermaßen komplizierten, wie simplen Geschichte? Doch dann ist bald die Mitte von „Tenet“ erreicht und wie man angesichts des Palindroms im Titel ahnen konnte, beginnt der Film nun quasi rückwärtszulaufen.

Bis dahin hatten wir dem immer etwas überfordert wirkenden, namenlosen Helden (John David Washington) und seinem immer etwas undurchschaubar wirkenden Partner Neil (Robert Pattinson) dabei beobachtet, wie sie einem russischen Waffenhändler namens Sator (Kenneth Branagh) verfolgen, der diesmal nicht etwa nur einen Krieg auslösen will, sondern gleich die Welt zerstören will. Und zwar mit einer Erfindung aus der Zukunft, der Möglichkeit, die Zeit rückwärts laufen zu lassen, sie zu invertieren, die Entropie umzudrehen. Wie das funktioniert, welche Auswirkungen das auf die Zeit hat, welche Paradoxe es auslösen kann, darum geht es in der zweiten Hälfte von „Tenet“

Zu sehen, wie die Welt quasi rückwärts läuft, während unsere Helden sich vorwärts bewegen, das zeigt Nolan in Set Pieces zwischen Indien und Vietnam, Oslo und einer verfallenen russischen Stadt, wie immer unterlegt von dröhnenden, brummenden, treibenden Klängen, makellos gefilmt, erzählerisch enorm ambitioniert. Einige großartige Bilder gelingen Nolan hier, Szenen, in denen Raum und Zeit gleichzeitig vor und zurück zu fließen scheinen, Momente, die in ihrer Komplexität wohl erst nach dem zweiten oder dritten Sehen ganz zu entschlüsseln sind. Und so ist „Tenet“ am Ende – auch wenn Nolan nicht mehr so überrascht, gar nicht mehr so überraschen kann, wie noch vor zehn Jahren – ein Kinofilm im wahrsten Sinne des Wortes gelungen. Ein Film, den man unbedingt auf der allergrößten Leinwand sehen sollte, der höchste Konzentration verlangt, um den Wendungen folgen zu können, ein Film vor allem, der Lust macht, sich in die Gedankenwelten eines Regisseurs ziehen zu lassen, der wie kaum ein anderer Hollywood-Regisseur versucht, die Grenzen des Blockbuster-Kinos zu sprengen.

„Tenet“ startet am 26. August im Kino. Abb.: Warner Bros.

Tenet (USA 2020) • Regie: Christopher Nolan • Darsteller: John David Washington, Robert Pattinson, Kenneth Branagh, Elizabeth Debicki

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