11. September 2020 1 Likes

Leseprobe aus „Helliconia - Frühling“

Brian Aldiss erzählt vom Aufstieg und Fall einer Zivilisation

Lesezeit: 10 min.

Die Romane und Kurzgeschichten des britischen Schriftstellers Brian Aldiss (1925 – 2017) zählen zu den ganz großen Klassikern des Genres. Eines seiner berühmtesten Werke ist ohne Zweifel die in den 1980er-Jahren erschienene „Helliconia-Trilogie“, die vom Aufstieg und Fall ganzer Zivilisationen auf der Welt eines Doppelsternsystems erzählt. Seit Kurzem ist „Helliconia“ neben weiteren Highlights aus Brian Aldiss‘ Œvre wieder als E-Book erhältlich, und wir freuen uns, Ihnen eine hier eine Leseprobe aus dem ersten Band „Frühling“ zur Verfügung zu stellen.

 

I

Tod eines Großvaters

 

Der Himmel war schwarz, und Männer mit Fackeln in den Händen kamen vom südlichen Tor. Sie waren in Felle vermummt und stapften, bei jedem Schritt die Beine höher als gewöhnlich hebend, durch den hohen Neuschnee, der Gassen und Wege bedeckte. Der heilige Mann kam! Der heilige Mann kam!

Der junge Laintal Ay verbarg sich im Eingang der Tempelruine, aber sein Gesicht strahlte vor Erregung. Er sah die Prozession zwischen den alten Steintürmen vorbeistapfen, deren Ostseiten vom Schnee überzogen waren, der früher am Tag gefallen war. Er bemerkte, dass es Farbe nur an den spritzenden, knisternden Enden der Fackeln, an der Nasenspitze des heiligen Vaters und in den Zungen der sechs Hunde seines Schlittengespanns gab. In jedem Fall war die Farbe Rot. Der schwere, trübe Himmel, in welchem der Wachtposten Batalix begraben war, hatte alle anderen Farben weggebleicht.

Vater Bondorlonganon aus dem fernen Borlien war fett, und noch fetter machten ihn die enormen Pelze, die er trug, Pelze von einer Art, die in Oldorando nicht gebräuchlich waren. Er war allein nach Oldorando gekommen – die Männer, die ihn begleiteten, waren einheimische Jäger, und Laintal Ay kannte bereits jeden von ihnen. Das Gesicht des Vaters war es, worauf der Junge seine ganze Aufmerksamkeit richtete, denn Fremde kamen selten; beim letzten Besuch des Vaters war er noch kleiner und weniger stark gewesen.

Das Gesicht des heiligen Mannes war oval und stark gefaltet von horizontalen Linien, denen Gesichtszüge wie Augen und Nase so gut wie möglich einfügten. Die Linien schienen seinen Mund in eine lange, grausame Form zu pressen. Er saß auf seinem Schlitten und starrte misstrauisch umher. Nichts in seiner Haltung ließ erkennen, dass er froh war, wieder in Oldorando zu sein. Sein Blick erfasste die Tempelruine; dieser Besuch war notwendig, weil, wie er wusste, Oldorando vor einigen Generationen seine Priesterschaft umgebracht hatte. Einen Atem lang ruhte sein Blick auf dem Jungen, der zwischen zwei eckigen, gedrungenen Säulen stand.

Laintal Ay starrte zurück. Es schien ihm, dass des Priesters Blick grausam und berechnend war; aber man konnte von dem Jungen schwerlich erwarten, dass er gut von einem Mann dachte, der gekommen war, um über seinem Großvater die Sterberiten zu zelebrieren.

Laintal Ay roch die Hunde, als sie vorbeitrabten, und den Teergeruch der brennenden Fackeln. Die Prozession bog vom Tempel ab und zog die Dorfstraße hinauf. Er war unschlüssig, ob er folgen sollte. Er stand auf den Stufen, vergrub die Hände in der grob zusammengenähten Pelzjacke und beobachtete, wie die Ankunft des Schlittens trotz der Kälte die Dorfbewohner aus ihren Türmen lockte.

Im Halbdunkel am anderen Ende der Gasse, unter dem großen Turm, wo Laintal Ay mit seiner Familie lebte, kam die Prozession zum Stillstand. Sklaven erschienen, um die Hunde zu versorgen – für sie gab es unter dem Turm einen Zwinger – während der heilige Vater steif von seinem Schlitten stieg und sich in den Turm begab.

Zur gleichen Zeit näherte sich vom südlichen Tor her ein Jäger dem halb in Trümmern liegenden Tempel. Er war ein schwarzbärtiger Mann namens Aoz Roon, den der Junge wegen seines prahlerischen Gehabes bewunderte. Hinter ihm, Fußschellen um die hornigen Knöchel, wanderte mühsam ein alter Phagorsklave, Myk.

»Nun, Laintal, ich sehe, der Vater ist aus Borlien gekommen. Willst du ihn nicht willkommen heißen?«

»Nein.«

»Warum nicht? Du erinnerst dich an ihn, nicht wahr?«

»Wäre er nicht gekommen, würde mein Großvater nicht sterben.«

Aoz Roon schlug ihm auf die Schulter.

»Du bist ein guter Junge, du wirst überleben. Eines Tages wirst du selbst über Embruddock herrschen.« Er gebrauchte den alten Namen für Oldorando, den Namen, der üblich gewesen war, bevor Yulis Leute gekommen waren, zwei Generationen vor dem gegenwärtigen Yuli, der nun auf seinem Sterbelager die Fürsprache des Priesters erwartete.

»Ich möchte lieber Großvater lebendig haben als ein Herrscher sein.«

Aoz Roon schüttelte den Kopf. »Sag das nicht! Jeder würde gern herrschen, hätte er die Gelegenheit. Ich auch.«

»Du würdest einen guten Herrscher abgeben, Aoz Roon. Wenn ich groß bin, werde ich wie du sein und alles wissen und alles töten.«

Aoz Roon lachte. Der Junge dachte, wie schneidig er mit den blitzenden Zähnen zwischen den bärtigen Lippen aussehe, wild und kraftvoll, aber ohne die Schläue des Priesters. Aoz Roon war in vielerlei Hinsicht heroisch. Er hatte eine Tochter namens Oyre, die mit Laintal Ay fast gleichaltrig war. Und er trug Kleider aus schwarzen Fellen, die von denjenigen der anderen abstachen, zugeschnitten und zusammengenäht aus dem Fell eines riesigen Gebirgsbären, den er eigenhändig erlegt hatte.

Unbekümmert sagte Aoz Roon: »Komm! Deine Mutter wird dich in dieser Zeit bei sich haben wollen. Steig auf Myk, er wird dich reiten lassen!«

Der große weiße Phagor streckte seine hornigen Hände aus und half dem Jungen auf seine gebeugten Schultern. Myk lebte seit langem in Knechtschaft unter den Bewohnern von Embruddock; seinesgleichen lebten länger als Menschen. Mit seiner heiseren, würgenden Stimme sagte er: »Komm, halt dich fest, Junge!«

Laintal Ay streckte die Hände aus und umfasste die Hörner des Ancipitalen. Als Zeichen seiner Versklavung waren die scharfen zweiseitigen Schneiden von Myks Gehörn glattgefeilt.

Die drei Gestalten stapften die krumme, von der Zeit abgenutzte Dorfstraße hinauf, der Wärme entgegen, während die Dunkelheit einer weiteren Winternacht sich über das Land senkte. Der Wind blies pulvrigen Schnee von Gesimsen und Dächern und ließ ihn auf sie herabrieseln.

Sobald der heilige Vater und die Hunde in dem Turm verschwunden waren, verzogen sich auch die Zuschauer wieder in ihre Behausungen. Myk setzte Laintal Ay im zertrampelten Schnee ab. Der Junge winkte Aoz Roon fröhlich zu und stieß die Türflügel im Fundament des Gebäudes auf.

Aus dem Halbdunkel schlug ihm Fischgestank entgegen. Jemand hatte den Schlittenhunden Fischabfälle vorgeworfen, die von den Fängen aus dem zugefrorenen Voral übriggeblieben waren. Die Hunde sprangen auf, als der Junge eintrat, zerrten an ihren Leinen, bellten wie rasend und bleckten die scharfen Zähne. Ein menschlicher Sklave, der den Vater begleitet hatte, schrie und fuchtelte erfolglos, um sie zur Ruhe zu bringen. Laintal Ay bellte und knurrte zurück, die Hände unter die Achseln gesteckt, und stieg die Holzstufen hinauf.

Von oben sickerte Licht herab. Sechs Geschosse waren über dem Stall aufeinandergestapelt. Jedes Geschoss bestand aus nur einem Raum, und er schlief in einem Winkel des ersten Stockwerks. Seine Mutter und die Großeltern wohnten im obersten Stockwerk. Zwischen ihnen lebten verschiedene Jäger, die in seines Großvaters Diensten standen; als der Junge vorbeikam, kehrten sie ihm die breiten Rücken zu, denn sie waren bereits beim Packen. Als er sein Stockwerk erreichte, sah Laintal Ay, dass Vater Bondorlonganons weniges Gepäck hier abgelegt worden war. Wahrscheinlich wollte er auch hier schlafen, und ohne Zweifel würde er schnarchen; das taten die Erwachsenen fast alle. Der Junge blieb stehen und betrachtete die Decke des Priesters, bewunderte die Fremdartigkeit des Gewebes und ihre Beschaffenheit, bevor er zum Großvater hinaufstieg.

Auf der letzten Leiter verhielt Laintal Ay in seinem Aufstieg, den Kopf durch die Bodenluke gesteckt, und überblickte alles aus der Froschperspektive. Dies war eigentlich der Raum seiner Großmutter, den Loil Bry seit ihrer Kindheit bewohnt hatte, als ihr Vater, Wall Ein Den, der das Stammesoberhaupt der Den gewesen war, über Embruddock geherrscht hatte. Jetzt war er von Loil Brys Schatten ausgefüllt. Sie stand vor einem Feuer, das in einem eisernen Becken brannte, nicht weit von der Öffnung, durch die ihr Enkel spähte. Bedrohlich ragte der Schatten auf den Wänden und der niedrigen Balkendecke. Von dem kunstvoll gewirkten Gewand, das seine Großmutter zu tragen pflegte, war nur ein ungewisser, bewegter Schattenriss an den Wänden zu sehen, und die Ärmel glichen Flügeln.

Drei weitere Leute waren in dem Raum, und sie schienen beherrscht von Loil Bry und ihrem Schatten. Auf einem Lager in einem Winkel lag der Kleine Yuli, dessen spitziges gelbliches Kinn aus den Fellen ragte, mit denen er zugedeckt war. Er war neunundzwanzig Jahre alt und vom Leben verbraucht und abgenutzt. Der alte Mann murmelte etwas. Loilanun, Laintal Ays Mutter, saß neben ihm, hatte die Ellbogen mit den Händen umfasst und sah blass und vergrämt aus. Sie hatte ihren Sohn noch nicht bemerkt. Der Mann aus Borlien, Vater Bondorlonganon, saß Laintal Ay am nächsten und betete laut mit geschlossenen Augen.

Dieses Gebet vor allem war es, was Laintal Ay zum Innehalten veranlasst hatte. Gewöhnlich war er sehr gern in diesem Raum, der voll war von den Geheimnissen seiner Großmutter. Loil Bry wusste und kannte so viele interessante Dinge und Geschichten, und in einer Weise nahm sie die Stelle von Laintal Ays Vater ein, der bei der Jagd auf einen Stungebag ums Leben gekommen war.

Stungebags trugen auch zu dem widerlich süßlichen Geruch bei, der den Raum erfüllte. Eines der Ungeheuer war vor kurzem erlegt und Stück um Stück ins Dorf gebracht worden. Zerbrochene Schuppenplatten, die man von seinem Rücken gehackt hatte, dienten nun als Brennstoff und halfen die Kälte vertreiben. Die Schuppen brannten hell mit gelblicher Flamme und zischten, während sie verbrannten. Der stinkende Qualm zog durch das geschwärzte Schindeldach ab.

Laintal Ay blickte unwillkürlich zur westlichen Wand. Dort war das Alabasterfenster seiner Großmutter. Da es draußen dunkelte, drang von dort keine Helligkeit durch die gelblichweiße, undurchsichtige Oberfläche, aber der Widerschein des Feuers ließ es in einer stumpf orangefarbenen Glut leuchten.

»Es sieht hier komisch aus«, sagte er endlich.

Er stieg eine weitere Sprosse hinauf, und die Augenlöcher der Kohlenpfanne strahlten ihn an.

Der heilige Vater ließ sich in seinem Gebet zu Wutra nicht stören; erst als er es beendet hatte, öffnete er die Augen. Eingezwängt zwischen die zusammengedrückten horizontalen Falten seines Gesichts, konnten sie sich nicht weit öffnen, aber sie blickten den Jäger mit listiger Freundlichkeit an, und der Vater sagte ohne lange Begrüßung: »Komm her, mein Junge! Ich habe dir aus Borlien etwas mitgebracht.«

Laintal Ay versteckte die Hände hinter dem Rücken und blieb auf Distanz. »Was ist es?«

»Komm her und sieh selbst!«

»Ist es ein Jagdmesser?«

»Komm und sieh selbst!« Er rührte sich nicht vom Fleck. Loil Bry schluchzte leise, der sterbende Mann ächzte, das Feuer zischte und knackte.

Laintal Ay näherte sich vorsichtig dem Vater. Er vermochte nicht zu begreifen, wie Leute in anderen Orten als Oldorando leben konnten: es war der Mittelpunkt der Welt – woanders gab es nur Wildnis, die Wildnis aus Eis und Schnee, die sich in alle Richtungen erstreckte, so weit man gehen konnte.

Vater Bondorlonganon brachte eine kleine Hundefigur zum Vorschein und legte sie dem Jungen in die Hand. Sie war kaum größer als die Handfläche, und Laintal Ay sah sofort, dass sie aus Kaidawhorn geschnitzt war, sehr sorgfältig und mit einer Vielzahl von Einzelheiten, die ihn begeisterten. Dickes Fell bedeckte lockig den Hunderücken, und die winzigen Pfoten hatten sogar Ballen. Er betrachtete ihn eine Weile, bevor er entdeckte, dass der Schwanz sich bewegen ließ. Wenn man ihn auf und ab bewegte, öffnete und schloss sich der Unterkiefer des Hundes.

Nie hatte es ein Spielzeug wie dieses gegeben. Laintal Ay rannte und tanzte vor Aufregung im Raum herum, bellte und jaulte, und seine Mutter sprang auf und umfing ihn mit den Armen, um ihn zur Ruhe zu bringen.

»Eines Tages wird dieser Junge Herr von Oldorando sein«, sagte Loilanun zum Vater, als müsse sie es ihm erklären. »Er wird erben.«

»Es wäre besser, er würde das Wissen lieben und lernen, um mehr Kenntnisse zu erwerben«, sagte Loil Bry mit halblauter Stimme. »Das war es, was mein Yuli vorzog.« Und sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte von neuem.

Vater Bondorlonganon blinzelte, wiegte den Kopf und erkundigte sich nach dem Alter des Jungen.

»Sechseinviertel Jahre.« Nur Fremde mussten solche Fragen stellen.

»Nun, dann bist du beinahe ein Mann. Noch ein Jahr, und du wirst alt genug sein, um ein Jäger zu werden, also entscheide dich bald. Was wünschst du mehr, Macht oder Wissen?«

Laintal Ay starrte zu Boden.

»Beides, Herr – oder was leichter ist.«

Der Priester lachte, entließ den Jungen mit einer Geste und watschelte hinüber, um seinen Schutzbefohlenen zu sehen. Er hatte sich beliebt gemacht; nun kam das Geschäft. Sein Ohr, durch Erfahrung eingestimmt auf die Heimsuchung des Todes, hatte eine Veränderung in der röchelnden Atmung des Kleinen Yuli wahrgenommen. Der alte Mann schickte sich an, diese Welt zu verlassen und die gefahrvolle Reise entlang seiner Land-Oktave zu der Obsidianwelt der Geister anzutreten. Mit Unterstützung der Frauen streckte Bondorlonganon den alten Mann aus und legte ihn so auf die Seite, dass sein Gesicht nach Westen schaute.

Froh, aus der Befragung entlassen worden zu sein, wälzte sich der Junge am Boden, kämpfte mit seinem horngeschnitzten Hund und bellte leise zurück, als das Tier wütend schnappte und kläffte. Sein Großvater verschied, während im selben Raum einer der wildesten Hundekämpfe in der Weltgeschichte stattfand.

 

Brian Aldiss: »Helliconia – Frühling« • Roman • Aus dem Englischen von Walter Brumm • Wilhelm Heyne Verlag, München 2020 • Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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