5. Juni 2021 1 Likes

„Sweet Tooth“: Netflix’ neue Postapokalypse

Die Streaming-Serie nach den Comics von Jeff Lemire („Black Hammer“, „X-Men“)

Lesezeit: 4 min.

Für den Kanadier Jeff Lemire, Superstar und Alleskönner der gegenwärtigen englischsprachigen Comic-Szene, schließt sich mit der Netflix-Adaption seiner Panel-Serie „Sweet Tooth“ ein Kreis. Denn bevor der 1976 geborene Lemire auf gezeichnete Bildergeschichten setzte, wollte er eigentlich Filmemacher werden. Lemire (man spricht es übrigens französisch aus) kennt man für Graphic Novels wie „Essex County“ oder „Roughneck“, die er sowohl schreibt als auch zeichnet; für von ihm verfasste Superheldentitel wie „X-Men“, „Old Man Logan“, „Green Arrow“ oder „Animal Man“ für die großen Verlage Marvel und DC; und für unabhängige Comics, darunter „Black Hammer“, „Gideon Falls“ und „Descender“. Die größtenteils von ihm realisierte Serie „Sweet Tooth“, immerhin knapp 50 US-Hefte lang, erschien zwischen 2009 und 2013 bei DCs inzwischen eingestelltem Imprint Vertigo, wo auch „Sandman“, „Y: The Last Man“, „Fables“ und „Hellblazer“ herauskamen, um nur ein paar zu nennen.

In „Sweet Tooth“ geht es um eine Welt, die von einer Seuche in die Postapokalypse katapultiert wird – in der viele Menschen starben und keine normalen Babys mehr geboren werden, sondern nur noch Hybride aus Tier und Mensch: speziesübergreifende Kinder mit Schnauzen, Fell, Federn und anderem. So wie Gus, ein Junge mit Hirschgeweih und den dazu passenden Ohren, und mit einer schier verhängnisvollen Vorliebe für Naschsachen, der also einen Süßen Zahn hat (daher Sweet Tooth). Gus lebt mit seinem Vater versteckt in einer Hütte im Wald, bis Jäger diesem Leben in vermeintlicher Sicherheit ein jähes Ende setzen. Der brutale Jepperd rettet Gus vor den Jägern, die Gus an die Miliz der Last Men und deren ruchlosen Anführer verkaufen wollen. Fortan setzen der Junge und der Mann ihren Weg durch die veränderte Welt gemeinsam fort – wobei der naive Gus Jepperd weit mehr vertraut, als er das sollte. Unterdessen forscht der Arzt Dr. Singh in einer kleinen, von dem Virus beherrschten Gemeinschaft zur Seuche und ihrem Zusammenhang mit Hybriden, die Ursache oder Folge sein könnten. Und Bear und ihre mörderische Crew beschützen hinter Tiermasken die Hybriden vor den Last Men …

In der seit 4. Juni online stehenden Netflix-Adaption von „Sweet Tooth“ entpuppt sich der junge Hauptdarsteller Christian Convery – er ist 11 Jahre alt – als sympathischer Gewinn für die Reihe der Kinderschauspieler, und Gus’ Hirschohren werden sogar zur eigenen Ausdrucksform; und der hünenhafte Nonso Anozie gibt keinen comic-kongruenten, jedoch einen absolut überzeugenden Jepperd. Die Hauptverantwortlichen hinter Netflix’ „Sweet Tooth“ sind indes Jim Mickle und Beth Schwartz: Mickle brachte zuvor Joe R. Lansdales Südstaaten-Krimis um Hap und Leonard ins TV, Schwartz arbeitete an den DC-Heldenserien „Arrow“ und „Legends of Tomorrow“. Aus Lemires starker Vorlage (auf Deutsch zur Zeit in drei Hardcover-Sammelbänden erhältlich, eine Sequel-Einzelband-Neuinterpretation folgt in Kürze) destillieren sie eine eigenständige postapokalyptische Fantasie sowie spannende neue Schwerpunkte und Auslegungen.

Manche Dinge passt man einfach an, so ist Jepperd nun kein ehemaliger kanadischer Eishockeyspieler mehr, sondern ein früherer amerikanischer Footballprofi (der am Anfang der ersten Folge kurz auf einem Fernseher als Spieler zu sehen ist, sehr hübsch gemacht im Detail). Witzig: Eine bunte, giftige Blumenwiese verbindet unterdessen den kanadischen Comic mit „Der Zauberer von Oz“, dem uramerikanischen Märchen-Roadmovie schlechthin. Und Tiger gelten wohl als der neue postapokalyptische Standard in Film und Fernsehen. Viele der „Sweet Tooth“-Folgen sind mit großen, geradezu cineastischem Gespür für Figuren, Landschaft, Stimmung und Emotionen umgesetzt, und überdurchschnittlich für Genre-Serienfernsehen. Man kann definitiv von postapokalyptischer Magie sprechen, die sich da entfaltet. Später wird es zwischendurch konventioneller und verliert man mal etwas Sense of Wonder und eben diese Magie, bleibt die Serie jedoch stets sehenswert und sicher in ihrer Umsetzung zwischen Cormac McCarthy, Robert Kirkman und Corona.

Es ist nämlich interessant und unübersehbar so, dass mehr und mehr Corona-Zeitgeist die endzeitlichen, apokalyptischen und postapokalyptischen Stoffe wie „Sweet Tooth“ trifft. Die Empfindungen, die Bilder und das Vokabular zur Pandemie haben sich in unseren Alltag und unsere Leben eingebrannt. Masken, Wellen, Impfstoff, etc. Geschichten über Viren und Seuchen erhalten deshalb nicht bloß eine andere Brisanz und Griffigkeit, sie bedienen sich auch noch Choreografien und Symbolen, die bei uns ganz akut auf eine Resonanz der Realität treffen. Der Junge hat Hirschohren und ein Geweih, und ein Arzt kämpft mit der Ausbeutung von Hybridenkindern gegen die Krankheit, die alles verändert hat, alle bedroht – und dennoch können wir diese extreme fiktive Wirklichkeit 2021 leichter denn davor fühlen und verstehen.

Es würde der Serie nach ihren ersten acht überzeugenden Episoden allerdings nicht gerecht werden, sie lediglich als die richtige Serie zur richtigen Zeit oder etwas in der Art zu bezeichnen. Dafür ist die Netflix-Version der „Sweet Tooth“-Comics von Jeff Lemire zu gute Genre-Kost, die immer mindestens trittsicher und oft sogar exzellent bis magisch inszeniert wurde. Gutes postapokalyptisches Futter für Naschkatzen, und sicher keine merkwürdige Hirsch-Scheiße, um diesen Text mit einem Zitat aus der Serie abzuschließen, die allemal zum sommerlichen Pflichtprogramm für alle gehören sollte, die diesen ominösen Sehnsuchtsort Postapokalypse suchen.

Abb.: Kirsty Griffin/Netflix © 2021

Sweet Tooth – Staffel 1Creator: Jeff Lemire, Jim Mickle • Darsteller: Christian Convery, Nonso Anozie, Stefania LaVie Owen, Dania Ramirez, Adeel Akhtar u. a. • Laufzeit: 8 Episoden mit je ca. 40–50 Min.

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