3. Juni 2022

„Antrieb“ – Eine The-Expanse-Story

Eine exklusive Story aus „Das Protomolekül“, dem Sammelband mit allen The-Expanse-Erzählungen

Lesezeit: 35 min.

Mit ihrer Romanserie The Expanse (im Shop) haben James Corey alias Daniel James Abraham und Ty Corey Franck einen Science-Fiction-Welthit gelandet. Neun Romane, die als das „Game of Thrones in Space“ gefeiert wurden – Band neun, „Leviathan fällt“ (im Shop) ist gerade auf Deutsch erschienen –, sowie ein zehnter Band „Das Protomolekül“ (im Shop), in dem alle Kurzgeschichten und Erzählungen aus dem Expanse-Universum versammelt sind. Die Serienverfilmung von The Expanse auf Prime Video hat neue Maßstäbe gesetzt. Um das gebührend zu feiern, präsentieren wir hier exklusiv „Antrieb“ – die erste Erzählung aus dem Sammelband. Darin macht ein Raumfahrtingenieur auf dem Mars eine bahnbrechende Erfindung, die die Zukunft des gesamten Sonnensystems für immer verändern wird … Und am Schluss melden sich die Autoren mit einigen Anmerkungen zur Entstehung dieser Story zu Wort!
 

ANTRIEB

Die Beschleunigung drückt Solomon in den Pilotensitz und legt sich wie ein Gewicht auf seine Brust. Die rechte Hand landet auf dem Bauch, die linke fällt auf die Polsterung neben seinem Ohr. Seine Fußgelenke werden gegen die Beinstütze gepresst. Der Schock trifft ihn wie ein Schlag, überfallartig. Sein Gehirn, das Produkt von Millionen Jahren der Evolution von Primaten, ist nicht darauf vorbereitet. Es betrachtet es als Angriff und dann als Sturz und dann als schrecklichen Traum. Die Jacht ist kein Produkt der Evolution. Ihre Alarmsignale sind rein informativer Natur. Übrigens, wir beschleunigen mit vier g. Fünf. Sechs. Sieben. Über sieben. Auf dem Monitor der Außenkamera schießt Phobos vorbei, und dann ist nur noch das Sternenfeld zu sehen, das so unveränderlich wirkt wie ein Standbild.

Es dauert fast eine Minute, bis er versteht, was passiert ist, dann versucht er zu grinsen. Das Hochgefühl lässt sein schwer arbeitendes Herz noch schwerer arbeiten.

James Corey: Leviathan erwacht (The Expanse 1)

The Expanse, Band 1

Das Interieur der Jacht ist creme- und orangefarben. Das Steuerpult ist ein einfacher Touchscreen und so alt, dass es an den Rändern schon grau wird. Es ist nicht schön, aber funktional. Solide. Ein Alarm meldet, dass die Wasseraufbereitung ausgefallen ist. Solomon ist nicht überrascht – er überschreitet die zugelassenen Werte – und überlegt, wo genau die Fehlfunktion liegt. Da der gesamte Schub auf der Hauptachse des Schiffs lastet, tippt er auf das Rückflussventil des Tanks, aber er freut sich schon darauf, es zu überprüfen, sobald der Testflug vorbei ist. Das Gewicht seiner Hand verblüfft ihn, als er sie zu bewegen versucht. Eine menschliche Hand wiegt ungefähr dreihundert Gramm. Bei sieben g wären das nur knapp über zweitausend. Eigentlich sollte er sie noch bewegen können. Mit zitternden Muskeln schiebt er den Arm auf das Steuerpult zu. Er fragt sich, wie weit er die sieben g überschritten hat. Da die Sensoren festhängen, muss er es nach dem Flug herausfinden. Wie lang die Beschleunigung andauerte und welche Geschwindigkeit erreicht wurde. Einfache Mathematik. Ein Kind könnte es ausrechnen. Er macht sich keine Sorgen. Wieder greift er nach dem Steuerpult, dieses Mal mit aller Kraft, und spürt einen stechenden Schmerz und Feuchtigkeit an seinem Ellbogen.

Huch, denkt er. Er will die Zähne fletschen, aber das funktioniert auch nicht besser als das Grinsen. Das wird peinlich. Wenn er den Antrieb nicht ausschalten kann, muss er warten, bis der Treibstoff ausgeht, und dann Hilfe rufen. Es könnte problematisch werden. Je nachdem, wie schnell er beschleunigt, wird das Rettungsschiff lange Schub geben müssen. Vielleicht doppelt so lang wie er. Vielleicht brauchen sie ein Langstreckenschiff, um zu ihm zu gelangen. Die Treibstoffanzeige ist eine kleine Zahl in der unteren linken Ecke des Steuerpults, grün auf Schwarz. Es ist schwierig, den Blick darauf zu fokussieren. Die Beschleunigung verformt seine Augäpfel. Hightech-Hornhautverkrümmung. Er kneift die Augen zusammen. Die Jacht ist für lange Beschleunigungsphasen konstruiert, und beim Start waren die Ausstoßtanks zu neunzig Prozent gefüllt. Das Display zeigt eine Schubphase von zehn Minuten. Der Treibstoffvorrat sinkt auf neunundachtzig Komma sechs Prozent. Das kann nicht stimmen.

Nach zwei weiteren Minuten fällt er auf neunundachtzig Komma fünf. Noch zweieinhalb Minuten später auf neunundachtzig Komma vier. Das bedeutet über siebenunddreißig Stunden Beschleunigung und eine Endgeschwindigkeit von knapp fünf Prozent c.

Allmählich wird Solomon nervös.

*

Er lernte sie vor zehn Jahren kennen. Das Forschungszentrum in Dhanbad Nova war eines der größten auf dem Mars. Drei Generationen, nachdem die ersten Siedler sich in das Gestein und die Erde der zweiten Heimat der Menschheit gruben, waren Wissenschaft und Kultur so weit fortgeschritten, dass die unterirdische Stadt fünf Bars aufzuweisen hatte, auch wenn eine davon ein alkoholfreier Laden war, in dem die Jainas und wiedergeborenen Christen herumhingen. Die anderen vier verkauften den gleichen Alkohol und das gleiche Essen wie in der Verpflegungsstelle, nur dass dazu Musik und ein Wandbildschirm liefen, auf dem Tag und Nacht ein Unterhaltungsfeed von der Erde abgespielt wurde. Solomon und seine Kollegen trafen sich dort zwei- oder dreimal pro Woche, wenn die Arbeitsbelastung im Forschungszentrum nicht zu hoch war.

James Corey: Calibans Krieg (The Expanse 2)

The Expanse, Band 2

Meistens rekrutierte sich die Gruppe aus demselben Dutzend von Leuten. Heute waren es Tori und Raj von dem Wasserrückgewinnungsprojekt. Voltaire, die in Wirklichkeit Edith hieß. Julio und Carl und Malik, die alle in der Krebstherapie arbeiteten. Und Solomon. Der Mars, so hieß es, war die größte Kleinstadt im Solar-System. Fast nie tauchte jemand Neues auf.

Heute war eine Neue da. Sie saß neben Malik und hatte dunkles Haar und eine geduldige Miene. Ihr Gesicht war ein wenig zu spitz, um als klassische Schönheit durchzugehen, und sie hatte dunkle Haare auf den Unterarmen. Mit Mitte dreißig würden ihre Gene ihr ein kleines Schnurrbartproblem bescheren. Solomon glaubte nicht an Liebe auf den ersten Blick, aber sobald er sich an den Tisch setzte, wurde ihm bewusst, dass er sich am Morgen nicht gründlich gekämmt hatte und dass seine Hemdsärmel ein wenig zu lang waren.

„Der Mars ist Amerika“, sagte Tori, während er sein Bierglas schwenkte. „Er ist genau das Gleiche.“

„Er ist nicht Amerika“, sagte Malik.

„Nicht so wie zum Schluss. So wie am Anfang. Überleg mal, wie lange es im sechzehnten Jahrhundert gedauert hat, von Europa nach Nordamerika zu reisen. Zwei Monate. Wie lange braucht man von der Erde hierher? Vier. Je nach Umlaufbahn sogar länger.“

„Worin er sich schon mal von Amerika unterscheidet“, sagte Malik trocken.

„Es ist dieselbe Größenordnung“, sagte Tori. „Ich will darauf hinaus, dass Entfernung in politischer Hinsicht in Zeit bemessen wird. Wir sind Monate von der Erde entfernt. Für die sind wir immer noch eine abtrünnige Kolonie. Als müssten wir ihnen gegenüber Rechenschaft ablegen. Wie viele hier, allein an diesem Tisch, haben schon Anweisungen von jemandem bekommen, der noch nie die Schwerkraftsenke verlassen hat, aber trotzdem meint, er könnte uns vorschreiben, in welche Richtung wir forschen?“

Tori selbst hob die Hand, und Raj tat es ihm schnell nach. Voltaire. Carl. Malik, zögerlich. Tori grinste selbstgefällig.

James Corey: Abaddons Tor (The Expanse 3)

The Expanse, Band 3

„Wer sind die richtigen Wissenschaftler im System?“, fragte Tori. „Wir. Unsere Schiffe sind moderner und besser. Unsere Umweltforschung ist der auf der Erde mindestens ein Jahrzehnt voraus. Letztes Jahr haben wir die Selbstversorgung erreicht.“

„Das glaube ich nicht“, bemerkte Voltaire. Die Neue hatte noch nichts gesagt, aber Solomon beobachtete, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf den jeweiligen Sprecher richtete. Er sah zu, wie sie zuhörte.

„Selbst wenn wir noch ein paar Dinge von der Erde brauchen, können wir sie eintauschen. Scheiße, noch ein paar Jahre, und wir bauen sie im Gürtel ab“, schwächte Tori seine letzte Aussage ab und stellte zugleich eine neue, genauso unwahrscheinliche Behauptung auf. „Ich sage ja nicht, dass wir die diplomatischen Beziehungen abbrechen sollen.“

„Nein“, meinte Malik. „Du sagt, wir sollten unsere politische Unabhängigkeit erklären.“

„Ganz genau“, sagte Tori. „Weil Entfernung in Zeit bemessen wird.“

„Und Logik wird in Bier bemessen“, entgegnete Voltaire im gleichen Tonfall. Die Neue in der Runde lächelte über seine Parodie.

„Selbst wenn wir glauben, dass wir außer unseren Ketten nichts zu verlieren haben“, sagte Malik. „Warum sollten wir uns die Mühe machen? De facto regieren wir uns schon selbst. Darauf herumzureiten, bringt nur Ärger.“

„Glaubst du wirklich, die Erde hätte es noch nicht bemerkt?“, fragte Tori. „Glaubst du, die Kids in den Labors auf Luna und in São Paulo sehen nicht zum Himmel auf und sagen: Dieser kleine rote Punkt macht uns noch fertig? Sie sind neidisch und haben Angst, und das zu Recht. Wenn wir unser eigenes Ding machen, und sie wollen was dagegen unternehmen, bleiben uns immer noch ein paar Monate Zeit. England hat seine Kolonien verloren, weil man mit einer Verzögerung von sechzig Tagen nicht die Kontrolle behalten kann, und bei hundertzwanzig Tagen erst recht nicht.“

„Na ja“, sagte Voltaire trocken. „Das und die Franzosen.“

„Und das war auch gut so“, sagte Tori, als hätte er sie gar nicht gehört. „Denn wer ist gekommen, als die Nazis an Englands Tür geklopft haben? Habe ich recht?“

„Hm“, sagte Solomon, „eigentlich nicht. Du hast gerade ein Argument für die Gegenseite geliefert. In Wirklichkeit sind wir die Deutschen.“

Weil er das Wort ergriff, sah die neue Frau ihn an. Er spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog, und trank einen Schluck Bier. Wenn er jetzt spräche, würde seine Stimme brechen wie die eines Vierzehnjährigen. Voltaire stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte das Kinn in ihre dunklen Hände und zog die Brauen hoch. Ihre Miene hätte die Überschrift Jetzt sollte was Gutes kommen tragen können.

„Okay“, sagte Malik, als hätte er seine Meinungsverschiedenheit mit Tori vergessen. „Ich bin ganz Ohr. In welcher Hinsicht sind wir wie ein Haufen mörderischer Faschisten?“

James Corey: Cibola brennt (The Expanse 4)

The Expanse, Band 4

„Durch die Art, wie wir kämpfen würden“, sagte Solomon. „Die Deutschen hatten die fortschrittlichste Wissenschaft, genau wie wir. Sie hatten die beste Technik. Sie hatten Raketen. Niemand außer ihnen hatte Raketen. Ein Panzer der Nazis war im Gefecht so viel wert wie vier oder fünf der Alliierten. Sie hatten die besten U-Boote und Raketenwerfer und die ersten Düsenflugzeuge. Sie waren einfach so viel besser. Besser entworfen, besser hergestellt. Die Nazis waren elegant und schlau.“

„Abgesehen von dem Rassenwahn und Völkermord“, sagte Julio.

„Davon abgesehen“, stimmte Solomon ihm zu. „Aber sie haben verloren. Sie hatten die beste Technik, genau wie wir. Und sie haben verloren.“

„Weil sie Psychopathen waren“, sagte Julio.

„Nein“, sagte Solomon. „Ich meine, sie waren zwar Psychopathen, aber es gab eine Menge verrückter Faschisten, die ihre Kriege nicht verloren haben. Die Nazis haben verloren, obwohl ihre Panzer fünfmal so gut waren, weil die Amerikaner zehn bauen konnten. Es war ein riesiger Industriestandort, und wen interessierte es, wenn die Produkte nicht mithalten konnten? Die Erde hat diese Industrie. Sie hat eine große Bevölkerung. Vielleicht brauchen sie Monate oder sogar Jahre, um herzukommen, aber dann sind sie so viele, dass sie uns überlegen sind. Es ist schön, technologisch voraus zu sein, aber wir bauen immer noch bessere Versionen von dem Zeug, was schon da war. Wenn man den demografischen Vorteil der Erde überwinden will, braucht man etwas so Neues, dass es ein Paradigmenwechsel ist.“

Voltaire hob die Hand. „Ich nominiere Paradigmenwechsel zum Wort des Abends.“

„Ich stimme zu“, sagte Julio. Solomon spürte die Röte an seinem Hals hochkriechen.

„Alle dafür?“ Ein kleiner Chor antwortete. „Der Antrag ist angenommen“, sagte Voltaire. „Jemand muss dem Mann einen Drink ausgeben.“

Die Unterhaltung entwickelte sich, wie sie es immer tat. Von Politik und Geschichte zu Kunst und Feinstrukturtechnik. Der große Streitpunkt des Abends war, ob künstliche Muskeln besser mit Schichten oder Bündeln von Nanoröhren funktionierten, und am Schluss ließen sich beide Seiten zu Beschimpfungen herab. Das meiste war gutmütig, und beim Rest wurde zumindest so getan, was fast auf dasselbe hinauslief. Der Wandbildschirm schaltete zu einem Musik-Feed von einer kleiner Gemeinde auf dem Syria Planum. Das Wehklagen und die Blechbläser des Raï wurden mit klassischen europäischen Saiteninstrumenten kombiniert. Es gehörte zu Solomons Lieblingsmusik, weil sie dicht und intellektuell anspruchsvoll war und man nicht dazu tanzen musste. Er saß den halben Abend neben Carl und redete über effiziente Ausstoßsysteme und versuchte, nicht die neue Frau anzustarren. Als sie von Malik wegging und sich zu Voltaire setzte, machte sein Herz einen Freudensprung – vielleicht war sie nicht mit Malik zusammen -, um gleich darauf wieder schwer zu werden – vielleicht war sie lesbisch. Er hatte das Gefühl, eine Dekade in seinem Leben zurückzuspringen und sich plötzlich in der hormonellen Folterkammer der Studentenzeit wiederzufinden. Er nahm sich vor, die Existenz der neuen Frau zu vergessen. Falls sie am Forschungszentrum arbeitete, könnte er in Ruhe herausfinden, wer sie war, und sich überlegen, wie er mit ihr sprechen konnte, ohne verzweifelt und einsam zu wirken. Falls nicht, würde sie nicht da sein. Trotzdem behielt er sie im Auge, um nichts zu verpassen.

James Corey: Nemesis-Spiele (5)

The Expanse, Band 5

Wie immer ging Raj zuerst. Er war in der Entwicklung, deswegen musste er neben der technischen Arbeit auch noch die Ausschusssitzungen koordinieren. Falls man das Terraforming-Projekt eines Tages wirklich umsetzte, würde es Rajs intellektuelle Handschrift tragen. Danach verließen Julio und Carl Arm in Arm die Bar. Carl hatte seinen Kopf an Julios Schulter gelegt, wie er es häufig tat, wenn sie beide angetrunken und verliebt waren. Als nur noch Malik, Voltaire und Tori übrig blieben, wurde es schwerer, der Neuen aus dem Weg zu gehen. Einmal stand Solomon auf, um zu gehen, aber dann machte er kehrt, ohne genau zu wissen warum. Sobald die Neue geht, sagte er sich. Wenn sie weg war, konnte er auch gehen. So würde er sehen, mit wem sie die Bar verließ, und wüsste, wen er nach ihr fragen konnte. Oder, falls sie mit Voltaire ging, wen er besser nicht fragen sollte. Er sammelte nur Informationen. Sonst nichts. Als auf dem Bildschirm der frühmorgendliche Newsfeed erschien, musste er zugeben, dass er sich etwas vormachte. Er winkte den anderen zum Abschied, dieses Mal wirklich, schob die Hände in die Taschen und ging hinaus in den Hauptkorridor.

Wegen der technischen Herausforderungen, die der Bau einer robusten Kuppel mit sich brachte, und dem Fehlen einer funktionierenden Magnetosphäre auf dem Mars befanden sich sämtliche Aufenthaltsräume unter der Erde. Die Gänge, die vom Hauptkorridor abgingen, hatten vier Meter hohe Decken und LEDs, die ihre Farbtemperatur und Helligkeit der Tageszeit anpassten, aber manchmal hatte Solomon immer noch das primitive Verlangen nach einem Himmel. Nach Weite und Freiheit und vielleicht danach, nicht sein ganzes Leben unter der Erde zu verbringen.

Hinter ihm ertönte ihre Stimme. „Hey.“

Sie hatte einen entspannten, schlendernden Gang. Ihr Lächeln wirkte warm und vielleicht ein wenig zaghaft. Außerhalb des Halbdunkels der Bar konnte er die helleren Strähnen in ihrem Haar sehen.

„Ah. Hallo.“

„Wir sind da drin nicht dazu gekommen, uns richtig vorzustellen.“ Sie streckte die Hand aus. „Caitlin Esquible.“

Solomon nahm ihre Hand und schüttelte sie einmal, als wären sie im Forschungszentrum. „Solomon Epstein.“

„Solomon Epstein?“, fragte sie. Aus irgendeinem Grund gingen sie jetzt nebeneinander. Zusammen. „Was macht ein netter jüdischer Junge wie du auf so einem Planeten?“

Wenn er nicht angetrunken gewesen wäre, hätte er es mit einem Lachen abgetan.

„Vor allem versuche ich, den Mut aufzubringen, dich anzusprechen“, sagte er.

„Das ist mir schon aufgefallen.“

„Hoffentlich war es charmant.“

„Besser als dein Freund Malik, der mich bei jeder Gelegenheit am Arm angefasst hat. Egal. Ich arbeite im Ressourcenmanagement für die Kwikowski Mutual Interest Group. Vor einem Monat bin ich von Luna gekommen. Was du über den Mars und die Erde und Amerika gesagt hast, das war interessant.“

„Danke“, sagte Solomon. „Ich bin Triebwerkstechniker bei Masstech. Wie lange bleibst du auf dem Mars?“

„Bis ich weggehe. Unbefristeter Vertrag. Und du?“

„Ach, ich bin hier geboren“, sagte er. „Wahrscheinlich werde ich auch hier sterben.“

Mit einem spöttischen Lächeln betrachtete sie seine lange dünne Gestalt. Natürlich hatte sie gewusst, dass er hier geboren wurde. Man konnte es nicht verbergen. Seine Worte fühlten sich jetzt wie eine schwache Prahlerei an.

„Ein Leben für die Firma“, sagte sie, um es in einen Scherz zu verwandeln.

„Ein Marsianer.“

James Corey: Babylons Asche (The Expanse 6)

The Expanse, Band 6

Am Wagenverleih standen sechs elektrische Fahrzeuge bereit. Solomon zog seine Karte hervor und malte damit Achten in die Luft, bis das Lesegerät das Signal empfing und der erste Wagen in der Reihe von Rot auf Grün schaltete. Er zog ihn heraus, bevor er begriff, dass er es gar nicht wollte.

„Willst du …“ Solomon räusperte sich und versuchte es noch einmal. „Willst du mit mir nach Hause kommen?“

Er konnte sehen, wie sich in ihrem Hirnstamm ein Klar, warum nicht bildete. Er konnte den Gedanken auf ihrem kurzen gewundenen Weg zu den Lippen folgen. Sie waren nah genug, um sein Blut anzuziehen wie ein Mond. Und er sah, wie sie im letzten Moment abbogen. Als Caitlin den Kopf schüttelte, war es weniger eine Absage als der Versuch, klar zu werden. Aber sie lächelte. Sie lächelte tatsächlich.

„Du bist mir ein bisschen zu schnell, Sol.“

*

Geschwindigkeit ist nicht das Problem. Solange er nicht irgendwo dagegen prallt, ist Tempo nur Tempo; selbst bei annähernd Lichtgeschwindigkeit könnte er sich schwerelos fühlen. Delta v ist das, was wehtut. Die Beschleunigung. Die Änderung. In jeder Sekunde bewegt er sich achtundsechzig Meter pro Sekunde schneller als in der vorigen. Oder mehr. Vielleicht auch mehr.

Die reine Beschleunigung ist auch nicht das Problem. Seit den frühen chemischen Triebwerken haben Raumschiffe die Energie, um mit fünfzehn oder zwanzig g zu beschleunigen. Die Kraft war immer da. Nur die Effizienz, um die Beschleunigung aufrechtzuerhalten, fehlte. Schub im Verhältnis zu Gewicht, wenn der Großteil des Gewichts aus Treibstoff für den Schub bestand. Und der menschliche Körper kann für den Bruchteil einer Sekunde eine Beschleunigung von über zwanzig g aushalten. Es ist die Dauer, die ihn umbringt. Und jetzt hält es schon seit Stunden an.

Es gibt Notabschaltungen. Wenn der Reaktor überhitzt oder die magnetische Flasche instabil wird, schaltet das Triebwerk ab. Es gibt alle möglichen Abschaltungen für alle möglichen Notfälle, aber es ist alles bestens. Alles läuft perfekt. Das ist das Problem. Das bringt ihn um.

Außerdem gibt es eine manuelle Abschaltvorrichtung am Steuerpult. Das Symbol ist ein großer roter Schalter. Ein Panikknopf. Wenn er ihn erreichen könnte, wäre alles in Ordnung. Aber er schafft es nicht. Sämtliche Freude ist jetzt verflogen. Statt Hochstimmung empfindet er nur Panik und zunehmenden mahlenden Schmerz. Wenn er nur das Steuerpult erreichen könnte. Oder wenn irgendetwas schiefgehen würde.

James Corey: Persepolis erhebt sich (The Expanse 7)

The Expanse, Band 7

Nichts geht schief. Er hat Mühe zu atmen und keucht, wie die Sicherheitsausbilder es ihm beigebracht haben. Er spannt die Beine und Arme an, um das Blut zurück in die Arterien und Venen zu pressen. Falls er das Bewusstsein verliert, wird er nicht mehr aufwachen, und an den Rändern seines Gesichtsfelds breitet sich schon Dunkelheit aus. Wenn er keinen Ausweg findet, wird er hier sterben. In diesem Stuhl, die Hände an den Körper gedrückt, die Kopfhaut von den Haaren nach hinten gezogen. Das Handterminal in seiner Tasche fühlt sich an, als rammte ihm jemand ein stumpfes Messer in die Hüfte. Er versucht sich zu erinnern, wie viel Masse ein Handterminal hat. Es gelingt ihm nicht. Er ringt um Atem.

Das Handterminal. Wenn er es erreichen kann, wenn er es herausziehen kann, kann er Caitlin kontaktieren. Vielleicht kann sie eine Verbindung herstellen und die Triebwerke abschalten. Die Hand auf seinem Bauch wird hart gegen seine inneren Organe gepresst, aber sie ist nur Zentimeter von der Tasche entfernt. Er drückt, bis die Knochen knacken, und sein Handgelenk bewegt sich. Die Reibung von Haut auf Haut reißt ein kleines Loch in seinen Bauch, und das austretende Blut stürmt auf den Sitz zu, als hätte es Angst vor irgendetwas.

Wieder drückt er. Ein bisschen näher. Das Blut ist ein Gleitmittel. Die Reibung nimmt ab. Seine Hand bewegt sich weiter. Es dauert Minuten. Seine Fingernägel stoßen gegen das gehärtete Plastik. Er kann es schaffen.

Kraft und Effizienz, denkt er, und einen Moment lang steigt trotz allem Freude in ihm auf. Er hat es erreicht. Das magische Paar.

Die Sehnen in seinen Fingern schmerzen, aber er zieht den Stoff der Tasche zur Seite. Er spürt, wie das Handterminal herauszurutschen beginnt, aber er kann nicht den Kopf heben, um es zu sehen.

*

Drei Jahre nachdem er sie kennengelernt hatte, tauchte Caitlin um drei Uhr morgens weinend, verängstigt und nüchtern an der Tür seines Wohnlochs auf. So etwas hätte Solomon nicht von ihr erwartet, und er hatte eine Menge Zeit mit ihr verbracht. Knapp sieben Monate nach ihrer ersten Begegnung waren sie ein Liebespaar geworden. So nannte er es. Caitlin würde so etwas nicht sagen. Bei ihr war alles ein bisschen derb und anzüglich. Das war ihre Persönlichkeit. Er hielt es für eine Art emotionalen Schutz, dass sie nie ganz offen war. So konnte sie ihre Ängste kontrollieren und leugnen. Und solange sie trotzdem ab und zu mit ihm ins Bett ging, war das in Ordnung für ihn. Und wenn sie es nicht mehr gewollt hätte, wäre er enttäuscht gewesen, aber er hätte auch damit leben können. Es gefiel ihm, wie sie die Welt mit einem Grinsen betrachtete. Ihr selbstsicheres Benehmen, besonders wenn sie es nur vortäuschte. Alles in allem mochte er sie so, wie sie war. Es machte alles einfacher.

Zweimal hatte sich ihr Vertrag automatisch verlängert, ohne dass sie die Ausstiegsklausel wahrgenommen hätte. Als er eine Stelle bei der funktionellen Magnetik annahm, fragte er sich, ob der zusätzliche Zeitaufwand sie voneinander entfremden werde. Keiner von ihnen hatte sich auf sexuelle oder romantische Beziehungen mit anderen am Forschungszentrum eingelassen. Alle behandelten sie, als gehörten sie einander, und deshalb bezeichnete Solomon ihre Beziehung als de facto monogam, obwohl sie diesbezüglich keinerlei Versprechen abgegeben hatten. Sicher hätte er sich gekränkt und betrogen gefühlt, wenn sie mit jemand anderem geschlafen hätte, und er nahm an, dass sie dasselbe empfand.

Aber so angenehm es auch war, Sex und gemeinsam verbrachte Zeit bedeuteten nicht, dass man sich besonders verletzlich zeigte. Deshalb war er überrascht.

„Hast du es schon gehört?“, fragte sie. Ihre Stimme klang rau und tief. Frische Tränen rannen ihr über die Wangen, und sie zog die Mundwinkel nach innen und unten.

„Ich glaube nicht.“ Solomon trat zurück, um sie einzulassen. Sein Loch entsprach der Standardausführung: vorn ein kleiner Mehrzweckraum mit einer einfachen Kochnische, einem Viertel-Wandbildschirm und Platz für drei oder vier Personen zum Sitzen. Dahinter befand sich das Schlafzimmer. Dahinter gab es einen Wandschrank und ein Badezimmer. Auf dem Mars erzählte man sich den Witz, das Wohnloch eines Mannes sei sein trautes Heim, wobei es ungefähr so traut wie ein Wohnheimzimmer war. Sie ließ sich schwer auf eine der Bänke sinken und schlang die Arme um den Oberkörper. Solomon schloss die Tür. Er wusste nicht, ob er mit ihr reden oder sie in den Armen halten sollte oder beides. Er begann mit einer Umarmung. Ihre Tränen hatten einen Geruch: Salz und Feuchtigkeit und Haut. Sie weinte an seiner Schulter, bis Neugier und Kummer die Überhand gewannen über die Befriedigung, ihr Kuscheltier zu sein. „Also. Was habe ich gehört?“

Sie gab ein verschleimtes Lachen von sich.

„Die Vereinten Nationen“, sagte sie. „Sie wenden das Statut für abtrünnige Provinzen an. Ihre Schiffe haben die Schubphase schon hinter sich. Vierzig Stück. Sie sind schon in der Flugbahn.“

„Oh“, sagte er, und sie fing wieder zu weinen an.

„Alles wegen dieser beschissenen Sezessionisten. Seit sie ihr Manifest veröffentlich haben, benehmen die Leute sich, als müsste man sie ernst nehmen. Als wären sie nicht bloß kurzsichtige Arschlöcher, die auf Aufmerksamkeit aus sind. Jetzt haben sie einen Krieg angefangen. Sie machen es wirklich, Sol. Sie werden Steine auf uns werfen, bis wir nur noch eine zehn Atome dicke Kohlenstoffschicht sind.“

„Das machen sie nicht. Das machen sie nicht“, sagte er und bereute sofort, dass er sich wiederholt hatte. Dadurch klang es, als wollte er es sich selbst einreden. „Jedes Mal, wenn das Statut für abtrünnige Provinzen in Kraft gesetzt wurde, ging es darum, dass die UN sich Ressourcen einverleiben wollten. Wenn sie unsere Infrastruktur zerstören, kommen sie nicht an die Ressourcen. Sie wollen uns nur Angst einjagen.“

Caitlin hob die Hand wie ein Schulmädchen, das sich meldet. „Funktioniert. Ich habe Angst.“

James Corey: Tiamats Zorn (The Expanse 8)

The Expanse, Band 8

„Und es geht nicht um die Sezessionisten, auch wenn sie das behaupten“, fuhr Solomon fort. Langsam kam er in Schwung. Er wiederholte sich nicht mehr ständig. „Das Problem ist, dass der Erde Lithium und Molybdän ausgehen. Trotz Recycling brauchen sie mehr, als sie haben. Wir habe Roherz. Das ist alles. Es geht nur um Geld, Cait. Sie werden uns nicht mit Steinen bewerfen. Außerdem, wenn sie damit anfangen, machen wir es auch bei ihnen. Wir haben bessere Schiffe.“

„Achtzehn Stück“, sagte sie. „Sie haben vierzig, die im Anflug sind, und genauso viele zur Verteidigung.“

„Aber wenn sie eines verfehlen …“ Er brachte den Gedanken nicht zu Ende.

Sie schluckte und wischte sich über die Wangen. Er beugte sich vor und zog ein Tuch für sie aus dem Spender.

„Weißt du das wirklich?“, fragte sie. „Oder erzählst du mir das nur, um mich zu beruhigen?“

„Muss ich das beantworten?“

Seufzend lehnte sie sich bei ihm an.

„Es wird Wochen dauern“, sagte er. „Mindestens. Wahrscheinlich Monate.“

„Also. Wenn du noch vier Monate zu leben hättest, was würdest du tun?“

„Mit dir ins Bett kriechen und nicht mehr rauskommen.“

Caitlin küsste ihn. Sie hatte etwas Wildes an sich, das ihn beunruhigte. Nein, nicht wild. Offen.

„Komm“, sagte sie.

Er wachte von dem Weckruf seines Handterminals auf und war sich vage bewusst, dass er den Ton schon eine Weile hörte. Caitlin war mit geschlossenen Augen und offenem Mund an ihn geschmiegt. Sie sah jung aus. Entspannt. Er schaltete den Alarm aus und sah auf die Uhr. Einerseits würde er ungeheuerlich zu seiner Schicht zu spät kommen. Andererseits wäre eine Stunde mehr auch nicht ungeheuerlicher. Zwei Nachrichten von seinem Teamleiter warteten auf ihn. Caitlin stöhnte und rekelte sich. Durch die Bewegung rutschte das Laken herunter. Er legte das Handterminal zur Seite, schob eine Hand unter sein Kissen und schlief weiter.

Als er das nächste Mal aufwachte, saß sie da und sah ihn an. Die Weichheit hatte ihr Gesicht verlassen, aber sie war immer noch wunderschön. Er lächelte zu ihr auf, nahm ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren.

„Willst du mich heiraten?“

„Ach, komm.“

„Nein, wirklich. Willst du mich heiraten?“

„Warum? Weil uns ein Krieg bevorsteht, in dem wir und alle, die wir kennen, sterben werden, ohne dass wir was dagegen unternehmen können? Schnell, lass uns was Dauerhaftes tun, bevor uns die Dauerhaftigkeit genommen wird.“

„Klar. Willst du mich heiraten?“

„Natürlich will ich, Sol.“

Es gab nur eine kleine Zeremonie. Voltaire war Caitlins Trauzeugin. Raj fungierte als Solomons Trauzeuge. Der Priester war ein Methodist, der aus Punjab stammte, aber jetzt mit dem schleppenden, pseudo-texanischen Akzent des Mariner Valley sprach. Es gab mehrere Kapellen im Forschungszentrum, und diese war wirklich schön. Alles, sogar der Altar, war aus dem heimischen Stein gehauen und mit Klarlack überzogen worden, sodass es feucht und edel und lebendig wirkte. Weiße und roten Adern durchzogen den roten Stein, und kristalline Flecke leuchteten hell. Der Duft von Flieder, den Voltaire bündelweise in den Gewächshäusern gekauft hatte, erfüllte die Luft.

Während sie voreinander standen und das Eheversprechen abgaben, dachte Solomon, dass Caitlins Gesicht die gleiche Ruhe ausstrahlte wie im Schlaf. Oder vielleicht war das nur eine Projektion. Als er ihr den Ring auf den Finger schob, spürte er, wie sich etwas in seiner Brust verschob, und war so vollkommen und irrational glücklich, wie er es noch nie erlebt hatte. Die UN-Flotte war noch drei Wochen entfernt. Selbst im schlimmsten Fall hatten sie noch fast einen Monat zu leben. Er wünschte, sie hätten es früher getan. Zum Beispiel gleich am ersten Abend. Oder sie hätten sich jünger kennengelernt. Auf den Bildern, die sie ihren Eltern schickten, sah er aus, als wollte er gerade ein Lied anstimmen. Er hasste die Fotos, aber Caitlin mochte sie, deshalb mochte er sie auch. Sie verbrachten ihre Flitterwochen in dem Hotel in Dhanbad Nova und trockneten sich mit Handtüchern ab und wuschen sich mit Seifen, die dem Luxus der Erde nachempfunden waren. Während ihres Aufenthalts dort badete er doppelt so oft wie sonst, und die Wärme des Wassers und die Weichheit des Morgenmantels hatten eine fast magische Wirkung auf ihn, als könnte er durch die Dekadenz als Terraner durchgehen.

Zufälligerweise ging alles gut. Welche Verhandlungen auch immer hinter den Kulissen abgelaufen waren, sie zahlten sich aus. Die UN-Schiffe drehten vorzeitig um und ließen die Triebwerke doppelt so lang laufen, wie es für ein Bremsmanöver notwendig gewesen wäre. Sie waren auf dem Heimweg. Solomon hörte zu, wie der Sprecher im Newsfeed die Raumflugmechanik der Reise von allen Seiten beleuchtete. Er versuchte sich vorzustellen, was die Soldaten auf den Schiffen empfanden. Sie hatten es fast bis zur neuen Welt geschafft, und dann drehten sie um, ohne sie auch nur gesehen zu haben. Mehr als ein halbes Jahr ihres Lebens war für einen Akt des politischen Theaters geopfert worden. Caitlin saß vorgebeugt auf der Bettkante und ließ den Bildschirm nicht aus den Augen. Saugte alles in sich ein.

Solomon, der hinter ihr am Kopfende des Betts lehnte, spürte ein kaltes Unbehagen in sich aufsteigen.

„Anscheinend wurde das Dauerhafte gerade ganz schön in die Länge gezogen“, versuchte er, einen Witz daraus zu machen.

„M-hm“, sagte sie.

„Das ändert die Lage.“

„M-hm.“

Er kratzte sich am Handrücken, obwohl es nicht juckte. Das trockene Geräusch von Fingernägeln auf Haut ging in der Stimme des Sprechers unter, sodass er es mehr spürte als hörte. Caitlin strich sich durchs Haar, und ihre Finger verschwanden in der Schwärze und tauchten wieder auf.

„Also“, sagte er. „Willst du dich scheiden lassen.“

„Nein.“

„Ich weiß, dass du dachtest, du würdest nicht mehr lange leben. Denn sonst … denn sonst hättest du dich anders entschieden. Jedenfalls würde ich es verstehen.“

Caitlin sah ihn über die Schulter an. Der Bildschirm beleuchtete ihre Wangen, Augen und Haare, als wäre sie aus Buntglas.

„Du bist bezaubernd, und du bist mein Mann, und ich liebe dich und vertraue dir, wie ich noch nie jemandem vertraut habe. Ich würde das gegen nichts eintauschen, außer gegen mehr davon. Warum? Willst du dich scheiden lassen?“

„Nein. Ich bin nur höflich. Nein. Plötzlich unsicher.“

„Hör auf damit. Außerdem hat sich nichts geändert. Der Erde gehen immer noch Lithium und Molybdän und alle möglichen Industrieminerale aus. Wir haben sie immer noch. Dieses Mal sind sie umgekehrt, aber sie kommen trotzdem, immer wieder.“

„Es sei denn, sie finden eine Möglichkeit, sie durch andere Metalle zu ersetzen. Oder sie entdecken eine andere Rohstoffquelle. Alles ändert sich ständig. Irgendwas könnte das ganze Problem irrelevant werden lassen.“

„Könnte“, stimmte sie zu. „Das ist es, was Frieden bedeutet, oder? Den Konflikt verschieben, bis der Grund dafür unwichtig geworden ist.“

Auf dem Bildschirm zündeten die UN-Schiffe ihre Triebwerke, und bogenförmige Flammen loderten hinter ihnen auf, als sie dorthin zurückkehrten, wo sie herkamen.

*

Das Handterminal gleitet ein Stück weiter aus seiner Tasche, und er ist ziemlich sicher, dass es einen Bluterguss von der Breite das Gehäuses hinterlässt. Es ist ihm egal. Er versucht sich zu erinnern, ob er die Sprachsteuerung angelassen hat, aber entweder ist sie ausgeschaltet oder seine Kehle durch die Schwerkraft so verformt, dass seine Stimme nicht erkannt wird. Er darf sich nicht entspannen, sonst verliert er das Bewusstsein, aber es wird immer schwieriger, das nicht zu vergessen. Verstandesmäßig weiß er, dass das Blut in seinem Körper nach hinten gepresst wird und sich im rückwärtigen Teil des Kleinhirns sammelt und seine Nieren flutet. Er hat nicht genug in der Medizin gearbeitet, um die genauen Folgen zu kennen, aber es kann nicht gut sein. Das Handterminal kommt jetzt fast ganz raus. Es liegt in seiner Hand.

James Corey: Leviathan fällt (The Expanse 9)
The Expanse, Band 9

Das Schiff bebt einmal, und eine Meldung taucht auf dem Display auf. Sie ist gelb, aber er kann den Text nicht lesen. Seine Augen können sich nicht scharf stellen. Wenn die Meldung rot wäre, würde sie eine Abschaltung auslösen. Er wartet ein paar Minuten und hofft, dass die Störung sich verschlimmert, aber es passiert nicht. Die Jacht ist robust. Gut geplant und gut gebaut. Er richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf das Handterminal.

Caitlin müsste jetzt im Wohnloch sein. Wahrscheinlich macht sie Abendessen und hört sich den Newsfeed über die Werftkrise an. Wenn er eine Verbindungsanfrage stellen kann, wird sie sie erhalten. Plötzlich überkommt ihn die heftige Angst, dass sie glaubt, er hätte sich versehentlich auf sein Terminal gesetzt. Dass sie ein paar Mal seinen Namen sagt, es mit einem Lachen abtut und die Verbindung beendet. Er muss Lärm machen, wenn sie annimmt. Selbst wenn er nicht sprechen kann, muss er sie wissen lassen, dass etwas schiefläuft. Schon Tausende Male hat er Verbindungsanfragen eingetippt, ohne hinzusehen, aber jetzt fühlt sich alles anders an, und sein Muskelgedächtnis hilft ihm nicht. Das Gewicht des Terminals ist überwältigend. Alles in seiner Hand schmerzt, als hätte jemand mit dem Hammer darauf geschlagen. Sein Bauch tut weh. Der schlimmste Kopfschmerz, den er sich vorstellen kann, breitet sich aus. Nichts an dieser Erfahrung macht Spaß außer dem Wissen, dass er erfolgreich war. Selbst während er sich abmüht, das Terminal zu bedienen, überlegt er, was der Testflug in praktischer Hinsicht bedeutet. Mit einer solchen Effizienz können Schiffe während der gesamten Reise Schub haben. Beschleunigungsschub bis zur Mitte, dann umdrehen und den Rest der Strecke bremsen. Selbst mit einem relativ sanften drittel g würde man nicht nur schneller ans Ziel gelangen, sondern auch die Probleme einer lang anhaltenden Schwerelosigkeit vermeiden. Er versucht abzuschätzen, wie lang die Überfahrt zur Erde dauert, schafft es aber nicht. Er muss sich auf das Terminal konzentrieren.

Die Form seines Bauchs verändert sich und somit auch der Winkel, in dem das Terminal aufliegt. Es gerät ins Rutschen, und er kann weder die Kraft noch die Geschwindigkeit aufbringen, um es aufzufangen. Das Terminal fällt die paar Zentimeter von seinem Bauch auf den Stuhl. Er will den linken Arm bewegen, der neben seinem Ohr hängt, aber es gelingt ihm nicht.

Der Arm rührt sich überhaupt nicht. Er kann ihn nicht einmal anspannen.

Oh, denkt er, ich habe einen Schlaganfall.

*

Sie waren seit sechs Jahren verheiratet, als Solomon sich von dem Geld, das er durch seine Leistungsprämien angespart hatte, eine Jacht kaufte. Es war ein fast fünf Jahre altes Schiff mit einem Wohnraum, der kleiner war als sein erstes Loch, und musste schon bald für einen Monat in die Werft im Orbit. Die Farbgestaltung im Innenraum – cremeweiß und orangefarben – entsprach nicht seinem Geschmack. Es hatte achteinhalb Monate auf dem Dock gelegen, nachdem der vorige Besitzer – der Junior-Vizepräsident eines auf Luna ansässigen Firmenkonglomerats – gestorben war. Seine Familie auf Luna hatte nicht vor, zum Mars zu kommen, und die Mühe des monatelangen Flugs durch die Leere trug zu dem niedrigen Preis bei. Für die meisten Leute auf dem Mars war ein solches Schiff nicht mehr als ein Statussymbol. Es gab keinen besiedelten Mond oder eine bewohnte L5-Station, zu denen man reisen konnte. Der Flug zur Erde war weder komfortabel noch sicher. Man konnte damit durch die Umlaufbahn kreisen. Man konnte ins Vakuum fliegen und zurückkehren. Das war so ungefähr alles, und die Sinnlosigkeit dieser Unterfangen schlug sich ebenfalls im Preis nieder. Als Statussymbol zeigte es, dass der Eigentümer zu tief ins Glas geschaut hatte. Als Transportmittel war es wie ein Rennwagen, der die Strecke nicht verlassen durfte.

Für Solomon war es das perfekte Testfahrzeug.

Die Jacht war für ein Triebwerk konstruiert worden, das er kannte, und an der Software hatte er selbst mitgeschrieben. Wenn er die technische Dokumentation und die Wartungspläne betrachtete, konnte er jedes Bedienfeld und jeden Luftaufbereitungsschlitz und jede Abdeckung sehen. Einige Teile des Abgassystems hatte er selbst vor einem Jahrzehnt entworfen. Und da ihm die Jacht gehörte, sparte er sich ein halbes Jahr Papierkram, wenn er sie benutzen wollte, um Verbesserungen an den Triebwerken zu testen. Allein bei der Vorstellung hätte er in Begeisterung ausbrechen können. Keine Genehmigungsausschüsse mehr. Keine aufwendigen Finanzierungspläne. Nur das Schiff, der Reaktor, ein paar Raumanzüge und Greifarme, die er seit seiner Ausbildung besaß. In früheren Zeiten hatte ein Wissenschaftler vielleicht eine Garage mit einem Thermocycler oder einen Schuppen hinter dem Haus mit Bienenstöcken oder zerlegten Motoren oder halb fertigen Prototypen von Erfindungen, die die Welt verändern würden, wenn sie doch nur zum Laufen gebracht werden konnten. Solomon hatte seine Jacht, und diese Anschaffung war das Zügelloseste, Schönste und Wichtigste, was er getan hatte, seit er Caitlin einen Heiratsantrag gemacht hatte.

Obwohl in dem fruchtbaren Garten seines Geistes tausend verschiedene Ideen für Experimente und Optimierungen und Justierungen keimten, hatte er Angst, seiner Frau von der Anschaffung zu erzählen. Und als die Zeit kam, stellte sich heraus, dass seine Besorgnis berechtigt war.

„Ach, Sol. Ach, Süßer.“

„Ich habe mein Gehalt nicht dafür ausgegeben“, sagte er. „Es waren nur Bonuszahlungen. Und nur mein Geld. Nicht unseres.“

Caitlin saß auf der Bank in ihrem Mehrzweckraum und tippte sich mit den Fingerspitzen auf den Mund, wie es ihre Gewohnheit war, wenn sie angestrengt nachdachte. Die Anlage spielte Ambient mit sanftem Schlagzeug und Saiteninstrumenten, die das Zischen des Luftrecyclers übertönten, ohne ihre Unterhaltung zu stören. Wie fast alle neuen Gebäude auf dem Mars war auch ihres größer, besser ausgestattet und tiefer unter der Erde.

„Du willst also sagen, du kannst, ohne mit mir zu sprechen, so viel Geld von unserem Konto ausgeben, wie du willst, solange die Summe nicht deine Bonuszahlungen überschreitet. Meintest du das?“

„Nein“, sagte er, obwohl es der Wahrheit nahekam. „Ich will sagen, es war kein Geld, auf das wir angewiesen sind. Alle unsere Verpflichtungen sind abgedeckt. Wir müssen nicht an Essen sparen, weil unsere Konten leer sind. Wir müssen keine Überstunden machen oder Nebenjobs annehmen.“

„Okay.“

„Und es ist wichtige Arbeit. Die Pläne, die ich für das Magnetspulen-Abgassystem habe, können die Effizienz der Triebwerke wirklich steigern, wenn ich …“

Okay“, sagte sie.

Er lehnte sich gegen den Türrahmen. Die Streicher spielten ein zartes Arpeggio.

„Du bist sauer.“

„Nein, Süßer. Ich bin nicht sauer“, sagte sie sanft. „Wenn man sauer ist, schreit man. Ich bin gekränkt, und das liegt daran, dass du mich nicht an deiner Freude teilhaben lässt. Wirklich, ich sehe, wie glücklich und aufgeregt du bist, und ich will daran teilhaben. Ich möchte rumhüpfen und mit den Armen wedeln und darüber reden, wie toll alles ist. Aber das Geld war unser Sicherheitsnetz. Du hast das ignoriert, und wenn wir es beide ignorieren, sind wir im Arsch, sobald irgendwas Unerwartetes passiert. Ich liebe dein Leben, deshalb muss ich jetzt diejenige sein, die sich Sorgen macht und dagegen ist und sich nicht freuen kann. Du machst mich zur Erwachsenen. Ich will aber nicht die Erwachsene sein. Ich will, dass wir beide erwachsen sind, damit wir beide Kinder sein können, wenn wir so was machen.“

Sie sah zu ihm auf und zuckte die Achseln. Ihr Gesicht wirkte härter als damals bei ihrer ersten Begegnung. Weiße Strähnen durchzogen ihr dunkles Haar. Als sie lächelte, spürte er, wie die Anspannung in seiner Brust sich löste.

„Vielleicht … war ich ein bisschen leichtfertig. Ich habe die Jacht gesehen und wusste, dass wir sie uns leisten können.“

„Und dann hast du losgelegt, ohne darüber nachzudenken. Weil du Solomon Epstein bist, der klügste, gründlichste und methodischste aller Männer, die jede wichtige Entscheidung in ihrem Leben spontan treffen.“ Hätten in ihrer Stimme nicht Wärme und Belustigung mitgeschwungen, hätte es sich wie eine Verurteilung angehört. So hörte es sich nach Liebe an.

„Aber ich bin nett“, sagte er.

„Du bist hinreißend. Und ich will alles hören über das, was du vorhast. Versprich mir bloß, dass du beim nächsten Mal versuchst, an die Zukunft zu denken.“

„Ja.“

Den halben Abend sprach er über Energie und Effizienz, Ausstoßmasse und Geschwindigkeitsmultiplikatoren. Und danach redeten sie über eine vernünftige Altersvorsorge und die Aktualisierung ihrer Testamente. Es fühlte sich wie eine Abbitte an, und er hoffte, dass sie es noch einmal tun könnten, wenn sie begriff, wie viel die Wartung der Jacht kostete. Aber darüber könnten sie ein anderes Mal streiten.

Tagsüber arbeitete er wie gewöhnlich mit dem Team in der Antriebsabteilung. Nachts saß er vor den Monitoren hinten in ihrem Loch und entwickelte seine eigenen Sachen. Caitlin initiierte über das Netzwerk mit einer Gruppe in Londres Nova ein Kolloquium, in dem diskutiert wurde, wie Unternehmen wie Kwikowski die destabilisierende Spirale aus Drohung und Vermeidung, in der Erde und Mars gefangen schienen, beeinflussen konnten. Wenn er sie mit den anderen reden hörte – über Propaganda und unterschiedliche Moralvorstellungen und jede Menge andere plausibel klingende Unbestimmtheiten -, erwähnte sie immer Lithium und Molybdän. Neuerdings auch Wolfram. Alles andere war interessant, wichtig, informativ und tiefsinnig. Aber solange sie die Schürfrechte nicht klärten, konnten sie das Problem nicht lösen. Er war immer stolz auf sie, wenn sie das sagte. Es war schwer, sich von einem geisteswissenschaftlichen Werdegang zu lösen, aber sie machte es gut.

Schließlich war die Zeit gekommen, seine Ideen und Pläne zu testen. Er begab sich auf die lange Reise zu den Werften mit dem neuen öffentlichen Transportsystem: vakuumierte Röhren, die durch den Fels verlegt und mit elektromagnetischen Schienen ausgestattet worden waren wie ein langsames, leistungsschwaches Gaußgewehr. Es war eng und unbequem, aber schnell. Solomon erreichte seine Jacht, eine Stunde bevor die Sonne hinter dem nahen Horizont des Mars unterging. Er beendete die letzten Korrekturen an dem Prototyp, den er gebaut hatte, spulte zweimal die Diagnosesequenz ab und flog das Schiff aus der dünnen Atmosphäre. Als er den hohen Orbit erreicht hatte, ließ er es eine Weile schweben und genoss das neue Gefühl von null g. Er goss sich eine Kanne Tee auf, schnallte sich am Pilotensitz fest und fuhr mit den Fingerspitzen über den alten Touchscreen.

Wenn er recht hatte, würden seine Anpassungen die Effizienz um fast sechzehn Prozent steigern. Die Zahlen zeigten, dass er unrecht hatte. Die Effizienz war um viereinhalb Prozent gesunken. Er landete wieder an den Werften und fluchte die ganze Zeit vor sich, während er mit der Transitröhre nach Hause fuhr.

Die Vereinten Nationen verkündeten, dass alle zukünftigen marsianischen Schiffe durch die Bush-Werften auf der Erde hergestellt werden sollten. Die lokale Regierung gab nicht einmal einen Kommentar dazu ab; sie fuhr einfach mit den geplanten Bauten fort und verhandelte danach um neue Aufträge. Die Vereinten Nationen ordneten die Schließung sämtlicher Werften auf dem Mars an, bis ein Inspektionsteam dorthin geschickt werden konnte. Sieben Monate, um das Team zusammenzustellen, und fast sechs Monate für den Transit wegen der ungünstigen Position der Planeten auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne. Solomon wurde ein wenig nervös, als er das hörte. Wenn die Werften geschlossen wurden, würde seine Test-Jacht festsitzen. Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die Werften blieben offen. Wieder kamen Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg auf, und Solomon versuchte, sie zu ignorieren. Er sagte sich, es werde nicht anders ablaufen als beim letzten Mal oder davor.

Zur allgemeinen Überraschung kündigte Raj in der Entwicklungsabteilung, mietete ein billiges Loch nahe der Oberfläche und begann handgefertigte Töpferwaren zu verkaufen. Er sagte, er sei noch nie so glücklich gewesen. Voltaire ließ sich scheiden und wollte, dass die ganze alte Mannschaft mit ihr in die Bars ging. Sie waren jetzt acht Leute, aber fast keiner kam. Julio und Carl hatten ein Baby und trafen sich mit niemandem mehr. Tori stieg bei einem kleinen Beratungsunternehmen für Chemiesicherheit ein, das vorgab, sämtliche Geschäfte mit einem marsianischen Vertragspartner abzuwickeln, aber in Wirklichkeit sein Geld mit Terraforming-Projekten verdiente. Malik starb an nicht behandelbarem Rückenmarkkrebs. Das Leben ging weiter, mit Siegen und Niederlagen. Solomons experimentelle Triebwerke kamen an den Punkt, wo sie fast so gut waren wie die der nicht modifizierten Schiffe. Dann wurden sie etwas besser.

Fast auf den Tag ein Jahr, nachdem er sie gekauft hatte, fuhr Solomon mit einem neuen Entwurf zur Jacht. Wenn er recht hatte, würde er die Effizienz um viereinhalb Prozent steigern. Er war gerade im Maschinenraum, um den Umbau vorzunehmen, als sein Handterminal zwitscherte. Es war Caitlin. Er nahm die Anfrage an.

„Was gibt’s?“, fragte er.

„Haben wir ausgemacht, nächsten Monat das lange Wochenende zu nehmen?“, fragte sie. „Ich weiß, dass wir darüber gesprochen haben, aber ich glaube, wir haben keine Entscheidung getroffen.“

„Stimmt, aber ich würde lieber nicht. Das Team ist ein bisschen im Rückstand.“

„So, dass Überstunden anfallen?“

„Nein, nur so, dass alle da sein sollten.“

„Okay. Dann plane ich vielleicht was mit Maggie Chu.“

„Nichts dagegen. Ich komme nach Hause, sobald das fertig ist.“

„Alles klar.“ Sie beendete die Verbindung. Er begutachtete die Gehäuse, brachte eine zusätzliche Schweißnaht an, wo die Spule der höchsten Belastung ausgesetzt wäre, und ging wieder hoch zum Pilotensitz. Die Jacht stieg durch die dünne Atmosphäre in die Umlaufbahn auf. Solomon ließ die Diagnose laufen und vergewisserte sich, dass alles gut aussah, bevor er startete. Fast eine halbe Stunde lang schwebte er, nur von den Gurten gehalten, in seinem Stuhl.

Als er die Schubsequenz einleitete, erinnerte er sich, dass das Team an dem Wochenende, das er sich eventuell mit Caitlin zusammen hatte freinehmen wollen, in Londres Nova sein würde. Er fragte sich, ob sie schon etwas mit Maggie Chu ausgemacht hatte oder ob man die Pläne noch ändern konnte. Er gab Schub.

Die Beschleunigung drückte Solomon in den Pilotensitz und legte sich wie ein Gewicht auf seine Brust. Die rechte Hand landete auf dem Bauch, die linke fiel auf die Polsterung neben seinem Ohr. Seine Fußgelenke wurden gegen die Beinstütze gepresst.

*

Das Schiff stimmt ein tiefes Klagelied an, kehlig und leidenschaftlich und traurig wie die Lieder, die sein Vater im Tempel gesungen hat. Jetzt begreift er, dass er hier sterben wird. Er fliegt zu schnell und zu weit hinaus, als dass er auf Hilfe hoffen könnte. Eine Weile – Monate oder Jahre – wird seine kleine Jacht so weit von der Schwerkraftsenke der Erde entfernt sein wie kein bemanntes Schiff zuvor. Sie werden die Baupläne in seinem Loch finden. Caitlin ist clever. Sie kann die Pläne verkaufen. Sie wird genug Geld haben, um für den Rest ihres Lebens jeden Tag Fleisch zu essen. Er hat gut für sie gesorgt, wenn auch nicht für sich selbst.

Wenn er das Schiff unter Kontrolle hätte, könnte er den Asteroidengürtel erreichen. Er könnte zum Jupiter-System fliegen und als erster Mensch Europa und Ganymed betreten. Aber das wird nicht passieren. Es ist jemand anderem vorbehalten. Aber derjenige wird von seinem Triebwerk dorthin gebracht werden.

Und der Krieg! Wenn Entfernung in Zeit bemessen wird, ist es vom Mars ab jetzt sehr nah zur Erde, während es von der Erde zum Mars immer noch sehr weit ist. Diese Asymmetrie verändert alles. Er fragt sich, wie sie damit umgehen werden. Was sie tun werden. Das ganze Lithium und Molybdän und Wolfram, das alle wollen, sind jetzt in Reichweite der Bergbaufirmen. Sie können zum Asteroidengürtel und zu den Monden von Saturn und Jupiter fliegen. Das Problem, das Erde und Mars an einem dauerhaften Frieden hindert, wird keine Rolle mehr spielen.

James Corey: Das Protomolekül (The Expanse 10)

The Expanse, Band 10 (Erzählungen)

Die Schmerzen in Kopf und Rücken verschlimmern sich. Es fällt ihm schwer, daran zu denken, Arme und Beine anzuspannen, um das schwächer werdende Herz beim Bluttransport zu unterstützen. Wieder verliert er fast das Bewusstsein, aber er weiß nicht, ob es ein Schlaganfall oder der Stoß der Schwerkraft ist. Er ist ziemlich sicher, dass es ungünstig ist, während eines Schlaganfalls den Blutdruck in die Höhe zu treiben.

Das Schiff verändert sein Klagelied ein wenig und singt jetzt buchstäblich mit der Stimme seines Vaters, hebräische Worte, deren Bedeutung Solomon vergessen hat, falls er sie je kannte. Akustische Halluzinationen also. Das ist interessant.

Er bedauert, Caitlin nicht noch einmal sehen zu können. Sich nicht verabschieden und ihr sagen zu können, dass er sie liebt. Er bedauert, die Auswirkungen seines Testflugs nicht miterleben zu können. Trotz der schrecklichen Schmerzen breiten sich Ruhe und Euphorie in ihm aus. So war es schon immer, denkt er. Seit Moses das Gelobte Land sah, ohne es betreten zu können, haben sich Menschen auf dem Totenbett zu sehen gewünscht, was als Nächstes passiert. Er fragt sich, ob das verheißene Land dadurch heilig wird: dass man es sehen, aber nicht ganz erreichen kann. Jenseits der eigenen Auslöschung ist das Gras immer grüner. Das klingt wie etwas, das Malik sagen würde. Etwas, über das Caitlin lachen würde.

Die nächsten Jahre – oder Jahrzehnte – werden faszinierend sein, dank ihm. Solomon schließt die Augen. Er wünscht, er könnte dabei sein und alles sehen.

Er entspannt sich, und die Weite schließt ihn in die Arme wie eine Geliebte.

*

Anmerkung der Autoren zu „Antrieb“

„Du bist mir ein bisschen zu schnell, Sol.“

Wortspiele sind vielleicht die niederste Form von Humor, aber das ist trotzdem einer unserer Lieblingssätze in diesem Buch.

Etwas, das öfter in The Expanse vorkommt, ist die Idee, dass der Prophet zwar Menschen ins Gelobte Land führen, es aber selbst nicht betreten kann. Solomon Epstein ist so ein Mann: jemand, der ein völlig neues Zeitalter einläutet, aber die Auswirkungen seiner Arbeit nicht miterleben wird. So eine Geschichte hat Kraft, weil wir alle diese Erfahrung machen. Besonders wenn wir älter werden, beschleicht uns dieses Gefühl, dass kurz nach unserem Ableben bedeutsame Ereignisse stattfinden werden. Die existenzielle Angst, etwas zu verpassen.

Ursprünglich wurde die Erzählung für Jonathan Strahans Anthologie Edge of Infinity geschrieben, von SYFY dann als Sonderband zur Comic-Con in San Diego herausgegeben und eine Weile kostenlos ins Internet gestellt. Es ist wahrscheinlich die Kurzgeschichte im Expanse-Universum, die am meisten gelesen wurde, für die wir aber am wenigsten Geld bekommen haben. Manchmal ist das Buchgeschäft schon seltsam.

Jemand hat einmal gefragt, ob eine Verbindung zwischen Voltaire, die früher mit Sol trinken war, und der militanten Fraktion der AAP, dem Voltairekollektiv, das in späteren Büchern vorkommt, existiert. Wahrscheinlich gibt es einen Zusammenhang, aber wir haben nie herauszufinden versucht, worin der besteht.

*
 

Diese Erzählung ist enthalten in:

James Corey: Das Protomolekül • Originaltitel: Memory’s Legion • Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler und Jürgen Langowski • Wilhelm Heyne Verlag • 512 Seiten • Paperback: € 16,- (im Shop) • Erscheint am 11. Juli 2022

 

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