19. Juni 2022

Joseph Kosinskis „Der Spinnenkopf“

George Saunders-Verfilmung - leider lahmes Gelaber ohne Biss

Lesezeit: 3 min.

Strafvollzug der etwas anderen Art: In naher Zukunft bekommen Gefangene die Möglichkeit mittels einer freiwilligen Teilnahme an Medikamentenstudien in der Forschungseinrichtung Spinnenkopf ihre Haftstrafe zu verkürzen. Der Boss der Einrichtung, Steve Abnesti (Chris Hemsworth), analysiert dort eine Reihe an Mitteln, die unter anderem den Sextrieb enorm steigern, einen fröhlich oder depressiv machen – und das alles in Sekundenschnelle. Doch die Experimente des verdächtig sympathischen Leiters der Anstalt nehmen bald düstere Züge an, als die beiden Häftlinge Jeff (Miles Teller) und Lizzy (Jurnee Smollett) am Test einer „Liebesdroge“ teilnehmen …

Ein wiederkehrendes Handlungselement von Joseph Kosinskis „Der Spinnenkopf“ ist die Frage, wer Kacke an die Wände der Einrichtung schmiert. Die Frage ist zwar für die Handlung völlig irrelevant und nur ein „Running Gag“, dankenswerterweise der einzige, es drückt sich hier aber auch ein wenig die Hilflosigkeit aus, mit der das Drehbuchautoren-Duo Rhett Reese und Paul Wernick („Deadpool“ 1&2) der Kurzgeschichte „Flucht aus dem Spinnenkopf“ (2010 im New Yorker erschienen, enthalten im Sammelband „Zehnter Dezember“ – im Shop) von George Saunders (im Shop) gegenüberstand, die hier adaptiert wurde. Dass ein nur wenige Seiten umfassendes Stück Literatur beim Transfer zum Medium Film zwangsläufig große Modifikationen durchläuft, ist völlig normal, weswegen ein direkter Vergleich zwischen beiden Versionen überflüssig ist. Der Knackpunkt ist die totale Einfallslosigkeit, mit der Reese und Wernick dem Stoff begegnen. Man kann selbst in kompletter Unkenntnis der Vorlage mit schlafwandlerischer Treffsicherheit genau sagen, was Saunders mit Sicherheit nie geschrieben hat – und das ist mitnichten nur der Kackewitz.


„Schatz, bist du dir sicher, dass Urlaub im Knast eine gute Idee ist?“

Das große Potenzial, das die Geschichte geboten hätte, etwa für eine Reflexion über den freien Willen, wurde nicht erkannt und das obwohl die Dreharbeiten Ende 2020 mitten während der Corona-Pandemie in Australien anfingen – in einer Zeit, in der Produkte großer Pharmakonzerne sehnsüchtig erwartet, aber auch inbrünstig über deren Wirkung gestritten wurde, in einer Zeit, in der die Freiheit des Individuums Thema unzähliger Debatten war und bei nicht wenigen das Gefühl hochkam, Spielball übergeordneter Mächte zu sein. Natürlich werden Drehbücher in der Regel einige Zeit vor Produktionsstart fertiggestellt – aber dennoch, was hätte man mit etwas Weitsicht und Flexibilität draus machen können?


Im Tattoo-Studio lag ein Buch herum, das sofort seine Neugier weckte

Jedenfalls wird das ganze Potenzial zu Gunsten eines profanen Gut-gegen-Böse-Schemas verschleudert. So interessant die erste halbe Stunde noch ist, schnell verläuft alles nach ausgelatschtem Hollywood-Strickmuster: Der traumatisierte Held wird dank einer attraktiven Knast-Bekanntschaft schnell wieder enttraumatisiert, der Antagonist enthüllt in einem „Twist“ sein wirkliches Vorhaben, ist aber natürlich trotzdem dem Untergang geweiht, und am Ende düsen Held samt Frau in einem Motorboot dem Sonnenuntergang entgegen. Das Schlimme: Grundsätzlich ist gegen Malen nach Zahlen ja noch nicht mal was einzuwenden, wenn aber nicht im Geringsten der Intellekt angesprochen wird, sollten wenigstens Schauwerte her, nur leider ist „Der Spinnenkopf“ als Quasi-Kammerspiel angelegt, das nicht nur den dünnen Inhalt breitlabert, sondern zudem mit zwei überforderten Hauptdarstellern aufwartet: Miles Teller (der derzeit auch in Kosinskis Kinohit „Top Gun: Maverick“ zu sehen ist) spielt, als ob ihn sein eigener Film auf die Nerven geht. Und so sehr man sich erstmal amüsiert, den ewigen Thor mal in einer ganz anderen Rolle zu sehen: Hemsworth funkt bereits in den ersten zwei Minuten direkt in den Zuschauerkopf, dass mit seiner Figur „etwas nicht stimmt“ und es am Ende wohl noch eine „große Überraschung“ gibt. Sympathischer, attraktiver Kerl, keine Frage, ist aber bei Marvel wohl ganz gut aufgehoben.

Einen Pluspunkt gibt’s: Kosinski entpuppt sich im Big-Budget-Zirkus einmal mehr als einer der wenigen mit Stil – sein Film ist perfekt durchdesignt und wartet erneut mit dem typischen Kosinski-Trademark (Personen vor weiten, leergefegten Hintergründen) auf, allerdings rettet das nicht vor der Erkenntnis, dass man statt „Der Spinnenkopf“ gucken genauso den Bürotisch aufräumen, endlich mal wieder die Schamhaare stutzen oder eins der tollen Büchern von George Saunders lesen könnte.

Abb.: Netflix

Der Spinnenkopf • USA 2022 • Regie: Joseph Kosinski • Darsteller: Chris Hemsworth, Jurnee Smollett, Miles Teller, Aykut Karacam, Joey Vieira, Sam Delich • Netflix

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.