18. November 2022

Willkommen in der Welt von AVATAR!

Eine Leseprobe aus Stephen Baxters „Die Wissenschaft von Avatar“, dem Begleitbuch zum Kino-Blockbuster

Lesezeit: 8 min.

James Camerons Avatar – Aufbruch nach Pandora ist der weltweit erfolgreichste Film aller Zeiten. Der Planet Pandora, auf dem die geheimnisvollen Na’vi leben, schlägt bis heute Millionen Zuschauer in ihren Bann. Könnte eine Welt wie Pandora wirklich existieren? Wie lange würde es dauern, sie mit einem Raumschiff zu erreichen? Wie würde ein solches Raumschiff aussehen? Science-Fiction-Autor und Wissenschaftler Stephen Baxter hat sich auf die Suche nach Antworten auf diese und andere Fragen gemacht – und dabei herausgefunden, dass wir der Welt von Avatar manchmal näher sind, als wir denken …

 

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»Wie viel Laborerfahrung haben Sie?«

»Ich habe mal einen Frosch seziert.«

Dr. Grace Augustine und Jake Sully

 

Dieses Buch durchleuchtet die wissenschaftlichen Grundlagen des Films Avatar – Aufbruch nach Pandora von James Cameron. Dafür haben er und sein Team uns einen eingehenden Blick hinter die Kulissen gewährt.

Doch ein Großteil der Wissenschaft spielt sich direkt auf der Kinoleinwand ab. Wir müssen nur genau hinsehen.

Stellen Sie sich vor, wir schreiben das Jahr 2154, und Sie halten sich auf Pandora auf, dem Mond des Gasgiganten Polyphemus, einem Planeten im Alpha-Centauri-System. Sie folgen dem Kriegsveteranen Jake Sully die Rampe des Valkyrie-Shuttles hinunter. Es hat Sie soeben vom Raumschiff Venture Star heruntergeflogen, das sich in einer Umlaufbahn

um Pandora befindet. Sie sind in Hell’s Gate gelandet, dem örtlichen Hauptsitz der RDA – der Resources Development Administration –, die auf diesem Planeten nach dem unschätzbar wertvollen Unobtanium schürft. Jake soll sich bei Dr. Grace Augustine melden und an dem von ihr geleiteten Avatar-Programm teilnehmen: Er wird mit seinem Verstand einen Klonkörper steuern und Kontakt mit den Na’vi aufnehmen, den Ureinwohnern dieser Welt.

In diesem Augenblick sind Sie mit Ihren Gedanken allerdings ganz woanders. Sie sind gerade auf einer außerirdischen Welt angekommen. Was sehen Sie? Was können sie hören und spüren?

Da Sie mit Ihrer Exopackmaske vor dem Gesicht nur Druckluft atmen, riechen Sie nichts. Möglicherweise hat der Himmel wegen der atmosphärischen Gase auf Pandora, die ein wenig anders zusammengesetzt sind als die irdischen, eine eigenartige Färbung. Und vielleicht sehen Sie

einige merkwürdig geformte Wolken. Was Sie kaum übersehen können, sind die beiden Sonnen von Alpha Centauri und die große jupiterartige Welt, die über Ihnen am Himmel hängen. Wahrscheinlich entdecken Sie nur wenig einheimisches Leben, da es größtenteils aus Hell’s Gate verbannt worden ist.

Sie bemerken eine gewisse Leichtigkeit und stellen fest, dass Ihre Schritte stärker federn als auf der Erde. In Ihrem Kopf herrscht erhöhter Druck, als hätten Sie eine Erkältung. Ihre Organe machen den Eindruck, als schwebten Sie in Ihrem Körper. Wenn Sie auf einer der kleineren Welten in unserem Sonnensystem wie dem Mond oder dem Mars trainiert haben, dann erkennen Sie diese Empfindungen, denn dort waren die Bedingungen ganz ähnlich. Was Sie spüren, ist Pandoras geringere Schwerkraft.

Plötzlich röhrt ein großer Minenlaster vorbei, und Sie und Jake sehen Pfeile in einem der Reifen stecken.

Das ist der erste Hinweis auf die Na’vi, den Jake wahrnimmt. Er verrät ihm und auch Ihnen bereits eine ganze Menge über Pandoras Ureinwohner.

Zunächst einmal, dass die Na’vi den modernen Menschen, was ihre kognitiven Fähigkeiten angeht, mindestens ebenbürtig sind. Ein Pfeil ist mit seinem Schaft, einer Spitze und einer wie auch immer gearteten Befiederung ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes Werkzeug. Auf der Erde sind, soweit wir wissen, nur Menschen in der Lage, derartige Objekte zu erschaffen – Schimpansen dagegen nicht, und auch nicht unsere frühen Vorfahren mit ihren grob behauenen Faustkeilen. Ein weiterer Beweis für die Klugheit der Na’vi ist, dass sie auf die Reifen gezielt haben, die einzige offensichtliche Schwachstelle dieses Vehikels.

Doch wie sind die Pfeile in den Reifen gelangt? Sie wissen bereits, dass die Na’vi von annähernd humanoider Gestalt sind, da Sie an Bord der Venture Star in Tanks gezüchtete Avatare gesehen haben. Daher könnten Sie (berechtigterweise) davon ausgehen, dass die Pfeile mit einem Bogen abgefeuert wurden. Doch Sie befinden sich auf einem fremden Planeten. Wie wahrscheinlich ist es, dass eine außerirdische Lebensform ebenfalls eine aus Pfeil und Bogen bestehende Waffentechnik entwickelt hat?

Nun, wir wissen, dass diese Methode auf der Erde mehrere Male hintereinander erfunden worden ist. Zum ersten Mal, wie es scheint, 8 000 v. Chr. auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands, und unabhängig davon auch von nordamerikanischen Ureinwohnern, die von ungefähr 11 000 v. Chr. bis zur Ankunft von Kolumbus keinerlei Kontakt zur Alten Welt hatten. Die isolierte Lage der Kontinente hat uns natürliche Laboratorien für die Untersuchung der kulturellen Evolution beschert. Viele Dinge wurden unabhängig voneinander erfunden, so zum Beispiel der Ackerbau, wo immer die örtlichen Ressourcen es zuließen. Das Bogenschießen ist eine dieser Erfindungen, die allerdings nicht überall auf der Welt gemacht wurde. Die australischen Aborigines verwendeten anstelle von Pfeil und Bogen einen mit der südamerikanischen Speerschleuder vergleichbaren Wurfstock, den sie als Woomera bezeichneten. Dieser Begriff wurde später für das australische Raumfahrtzentrum übernommen.

Deswegen überrascht es Sie nicht, dass die Na’vi ebenfalls Pfeile mit Bogen verschießen.

Und vielleicht erstaunt es Sie auch nicht, als Colonel Miles Quaritch von der SecOps, der Sicherheitschef in Hell’s Gate, Jake erklärt, dass die Na’vi ihre Pfeile bevorzugt in ein Nervengift tunken. Schließlich haben sich die südamerikanischen Indianer gegen die spanischen Konquistadoren ebenfalls mit Pfeilen gewehrt, die sie zuvor mit tödlichem Froschschleim, Strychnin oder einem Curare-Alkaloid bestrichen hatten, das eine lebensgefährliche Lähmung verursachte.

Der Ex-Marine Jake hat bestimmt als Erstes registriert, dass die Na’vi offenkundig feindselig sind. Wie die Spanier, die auf der Erde hinter Gold her waren, sind auch die RDA-Konquistadoren aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert, die es auf Unobtanium abgesehen haben, in einen Konflikt mit den Jägern und Sammlern des Waldes geraten.

All das können Jake und Sie aus Ihrer ersten Beobachtung auf Pandora, ein paar Pfeilen in einem Reifen, ableiten.

 

James Cameron hat mit seinem visionären Film Avatar – Aufbruch nach Pandora und dem darin gewährten Blick auf die Na’vi und ihre herrliche Heimat Zuschauer aus aller Welt in den Bann geschlagen. Und wie Jake Sully in seiner psionischen Link-Einheit wollen viele von ihnen nicht aus diesem Traum erwachen und leiden, sobald der Abspann läuft, unter »Avatar-Entzug«.

Doch der Film ist kein reiner Traum oder bloße Fantasie. Für vieles, was wir sehen, gibt es eine wissenschaftliche Erklärung. Was nicht verwunderlich ist, da seine Macher zahlreiche Experten um Rat gefragt und ihr eigenes Fachwissen miteingebracht haben. Bleiben wir beim Beispiel Bogenschießen. Die Filmdesigner haben nicht weniger als vier verschiedene Pfeil- und sieben Bogenarten entwickelt, die von Übungsspielzeugen für Kinder bis zum mächtigen »X-Bogen« reichen. Letzterer besteht aus zwei überkreuzten Wurfarmen und wird für Distanzschüsse bei Luftangriffen eingesetzt. Jake wird im Laufe des Films herausfinden, dass die Bogen ein integraler Bestandteil der Na’vi-Kultur sind. Sobald junge Jäger und Jägerinnen das Iknimaya-Ritual absolviert haben, dürfen sie sich einen Bogen aus einem Ast des riesigen Heimatbaums schnitzen, in dem der Clan der Omaticaya lebt.

Dem, was wir Zuschauer auf der Leinwand zu sehen bekommen, liegt ein zwar erfundenes, aber komplett ausgestaltetes Universum zugrunde. Viele der darin enthaltenen Details werden nicht einmal angedeutet, doch sie machen den Film authentischer und steigern seinen kulturellen Wert. Meine eigene Karriere als Autor fußt (größtenteils) auf sogenannter »Hard«-Science-Fiction, also einer Untergattung der SF, in der ich mich an die uns bekannten Naturgesetze zu halten versuche. Das Reizvolle an guter Hard-Science-Fiction ist, dass sie es uns ermöglicht, unsere Menschlichkeit vor dem Hintergrund eines Universums zu erkunden, dessen Geheimnisse von unserem ständig wachsenden Wissen immer besser durchdrungen werden. Und das gilt insbesondere für Avatar.

So, wie Jake sich über die Pfeile wundert und Dr. Grace Augustine unablässig ihren Proben nachjagt, werden wir in diesem Buch als Feldforscher die Wissenschaft des fiktiven Avatar-Universums erkunden. Dabei werden wir uns vor allem vom Film leiten lassen, aber auch immer wieder in das reichhaltige Universum eintauchen, mit dem James Cameron und sein Team ihn unterfüttert haben. In manchen Passagen werde ich über verschiedene Aspekte des Avatar-Universums nur spekulieren können, da, während ich dieses Buch schreibe, noch immer erst ein Film veröffentlicht wurde. In insgesamt vier Kino-Fortsetzungen sollen wir noch viel mehr über die Welt von Avatar erfahren …

Dies ist ein Buch über Wissenschaft, doch wir müssen uns immer bewusst machen, dass wir es mit einem Spielfilm zu tun haben, einer fiktiven Geschichte. Die erste Drehbuchfassung schrieb James Cameron 1995, doch seine Vorstellung von den Na’vi lässt sich bis zu Bildern zurückverfolgen, die er in den 1970ern schuf. Avatar entstand in einem ständigen Wechselspiel zwischen Camerons Visionen und der Arbeit von Künstlern, Set-Designern und Beratern, die dazu angehalten wurden, wissenschaftliche Fakten und Bilder aus der echten Welt in das Werk einfließen zu lassen, um so ein stimmiges, glaubwürdiges Universum zu erschaffen – und dabei immer die Bedürfnisse des Publikums im Blick zu behalten. Cameron drängte seine kreativen Mitstreiter, für jedes Element des Films »die passende Metapher zu finden«. So sind die Ikrans zum Beispiel die ultimative Metapher für Raubvögel.

Alles, was wir auf der Leinwand präsentiert bekommen, dient zuallererst einem erzählerischen Zweck oder vermittelt einen atemberaubenden visuellen Eindruck – und so verfügt Avatar über große erzählerische Wucht und eine opulente Bilderwelt. Im Umkehrschluss lässt sich feststellen: Würde der Film auf narrativer und visueller Ebene nicht funktionieren, könnte ihn nicht mal die beste Wissenschaft der Welt retten. Daher werden wir bei der Erforschung des Avatar-Universums seinen Machern immer künstlerische Freiheiten einräumen. Sie haben eine Welt geschaffen, die sich außerirdisch anfühlt, jedoch mit einigen vertrauten Elementen arbeitet, damit das Publikum nicht permanent von allzu Fremdartigem abgelenkt wird. Deswegen tragen die Gesichter der Na’vi zum Beispiel vage katzen- beziehungsweise löwenartige Züge – vertraute Elemente also, die dennoch befremdlich wirken.

Nebenbei bemerkt werden Sie zweifellos nicht mit all meinen Interpretationen und Schlussfolgerungen einverstanden sein. Auch das gehört zu guter Wissenschaft.

 

Da Sie dieses Buch lesen, gehe ich davon aus, dass Sie mit dem Film vertraut sind und sich für Wissenschaft interessieren. Was ich allerdings nicht voraussetze, ist ein wie auch immer geartetes akademisches Vorwissen. Die Reihenfolge der Kapitel orientiert sich am Handlungsverlauf des Films. Es spricht aber nichts dagegen, zu jeder beliebigen Stelle zu springen, die Sie gerade besonders interessiert.

Avatar – Aufbruch nach Pandora ist unter anderem die Geschichte einer Reise. Jake Sully bricht von der Erde zu den Sternen auf. Während er auf Pandora die Na’vi zu retten versucht, entdeckt er seine eigene Menschlichkeit und entwickelt sich schließlich über sie hinaus. Unsere Reise wird sich an Jakes orientieren, und sie beginnt, wo Jakes beginnt: auf der Erde, in der Mitte des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts …

 

Lesen Sie weiter in: Stephen Baxter: Die Wissenschaft von Avatar • Sachbuch • aus dem Englischen von Urban Hofstetter • Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 • 336 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: € 15,00 • im Shop

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