28. Februar 2022 2 Likes

Künstlerische Diskurse über das Mögliche und Machbare

Zum Potential eines unterschätzten Genres: „Science-Fiction. 100 Seiten“ von Sascha Mamczak

Lesezeit: 5 min.

Die Aufgabe ist heikel: Eine Darstellung der Science-Fiction, die grundlegende Merkmale ebenso berücksichtigt wie die geschichtliche Entwicklung, aber mit einhundert möglichst gut lesbaren Seiten auskommt. Und das bei einem Genre, das sich jeder Definition gekonnt entzieht, dafür allerdings – wie kaum ein anderes künstlerisches Format – polarisiert, weil es Ablehnung und Widerspruch herausfordert: Science-Fiction, so heißt es, sei grundsätzlich unliterarisch und daher künstlerisch nachrangig. Der Sachbuchautor (Die Zukunft. Eine Einführung, 2014 – im Shop) und SF-Herausgeber Sascha Mamczak (Jg. 1970) hatte also gut zu tun, um das Genre als das zu würdigen, was es seiner Meinung nach ist: Eine Kulturtechnik, mit der sich die Wirklichkeit besser erkennen lässt.

Mamczak räumt zunächst ein, dass sich SF schlecht definieren lasse; es gäbe keine Formel, „auf die man rekurrieren, oder einen abgeschlossenen Katalog von Erzählweisen und Motiven“, der eine Grundlage bieten würde. Entsprechend sieht er in ihr ein ästhetisches Verfahren, das zum einen eine Geschichte erzählt und zum anderen eine Welt entfaltet, deren Gesetzmäßigkeiten variabel sind und sich von der Realität des Lesers unterscheiden. Es geht um einen „Imaginationsraum“, der das „Hier und Jetzt“ mit einem „Dort und Dann“ verbindet, weshalb die SF niemals – wie die Fantasy – eine gänzlich andere Welt darstelle, sondern der Wirklichkeit verhaftet bleibe: „In der Science-Fiction kann vieles passieren. Aber nicht alles.“ Ausschlaggebend sei die Begründung der Ereignisse, und zwar insbesondere durch den Bezug zur „Idee der Wissenschaft“: Es ist die Forderung nach Rationalität, die SF konstituiere und zu einer „Überblendung von Realität und Imagination“ führe, während sich Fantasy gänzlich vom Realen loslösen würde. Für die Science-Fiction bestimmt Mamczak dann drei Überthemen: Den „gigantischen Raum, in dem wir existieren“, die „Verlagerung des fiktiven Geschehens in die Zukunft“ und „die Veränderung der Welt und des Menschen durch den Menschen“. Es ist vor allem der dritte Punkt, der ihn interessiert und der die spezifische Rolle der SF als Kulturtechnik definiert: Es geht um den zivilisatorischen Wandlungsprozess, dem die westliche Gesellschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unterliegt, wobei die Wissenschaft als maßgebliches Instrument zur Welterkenntnis diene. Mamczak verdeutlicht diese Entwicklung anhand einiger ausgewählter Klassiker, wobei insbesondere die Rollen von Jules Verne (Reiseerzählungen in einer statischen Welt) und H.G. Wells (Abenteuer in einer sich wandelnden Welt) einprägsam erläutert werden. SF erscheint hier einerseits als „Diskurs über das Mögliche und Machbare“, andererseits – und dies ist der Kern von Mamczaks Ausführungen – als „künstlerische Möglichkeit, die Realität einem fundamentalen Wandel zu unterziehen“. Die Literatur steht also nicht für sich allein, sondern sie kommt aus der Wirklichkeit und wirkt auf diese zurück.

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Mamczak entwickelt nun ausgehend von der These, dass SF im Wesentlichen eine englisch-französische Erfindung sei, die in den USA populär gemacht wurde und dann nach Europa ausgestrahlt habe, eine kurze Geschichte der Gattung. Er beginnt bei Hugo Gernsback und John W. Campbell, um anschließend Isaac Asimov (im Shop), Arthur C. Clarke (im Shop) sowie Robert A. Heinlein (im Shop) als die „Großen Drei“ der „traditionellen“ Phase zu würdigen, bis vor dem Hintergrund der Swinging Sixties eine grundsätzliche Entgrenzung stattfindet, die eng mit dem Begriff der „New Wave“ verbunden ist: „Mit den beginnenden 1970er Jahren diffundierte die Science-Fiction in alle kulturellen Richtungen und gesellschaftlichen Bereiche.“ Als Markstein dieser Entwicklung dient Mamczak Kubricks 2001 – A Space Odyssey (1968), ein Film, der die klassischen und die innovativen Tendenzen des Genres miteinander verbindet. Aber: 2001 und die zunehmende Dominanz von Film und Fernsehen in der SF bewirkte, dass sich deren Schwerpunkt von den Ideen zu den Bildern verlagerte; eine Entwicklung, die bis heute andauert. Vor dem Hintergrund jedoch, dass sich die Realität immer mehr den SF-Vorstellungen der jüngeren Vergangenheit annähert, bleibt der Gattung ihr anwendungsbezogenes Charakteristikum als „Instrument“ erhalten, um „die Gegenwart und unsere Rolle darin nicht nur zu verstehen, sondern auch zu überwinden“. Die angeblich wirklichkeitsferne SF steht somit in einem engen Austauschverhältnis mit der Realität, aus dem sie ihre Relevanz bezieht.

Betrachtet man diese Argumentation, so wird deutlich, dass Sascha Mamczak im Wesentlichen eine Legitimationsschrift vorgelegt hat. Sein Buch erläutert die SF klug, nachvollziehbar und ausgesprochen lesbar, aber es rechtfertigt sie auch. Die Linien, die dabei gezogen werden, sind originell und plausibel; insbesondere der Gedanken, dass sich Film und Buch in einem unguten Spannungsverhältnis bewegen, welches die SF-Literatur unter Druck setzt, ist eine der wesentlichen Beobachtungen des Texts. Unterdessen liegt ja tatsächlich der Gedanke nahe, dass sich SF-Romane offenbar nur noch dann aussichtsreich verkaufen lassen, wenn eine Verfilmung mediale Aufmerksamkeit erzeugt oder die Texte von vornherein im Blockbusterstil angelegt sind. Erwähnt sei auch Mamczaks Kritik am Modebegriff „Sci-Fi“, der völlig zu Recht jenen Spaßprodukten zugewiesen wird, die komplett aus Effekthascherei und Publikumsüberwältigung bestehen. Zu der Krise der ernsthaft-intellektuellen SF, die an dieser Stelle anklingt, hätte man allerdings gern mehr gelesen, zumal die Autoren, die Mamczak im Hinblick auf die „New Wave“ anführt, hierzulande – mit Ausnahme von J.G. Ballard und Philip K. Dick – seit dreißig Jahren als unverkäuflich gelten und derzeit kaum (Samuel R. Delany) oder überhaupt nicht (Thomas M. Disch) betreut werden. (Langfristig dürfte dieses Segment wie etwa bei James Tiptree jr. kleinen Verlagen zufallen.) Auch das Abwandern genuiner SF-Motive in den literarischen Mainstream und der nunmehr jahrzehntelange Siegeszug der Fantasy nagen an der SF als ernstzunehmender Literatur und ihrer öffentlichen Wahrnehmung.

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Natürlich werden an Stellen wie dieser die notwendigen Beschränkungen einer Schrift bemerkbar, die sich mit 100 Seiten zu begnügen hat. Es fällt leicht, dem Buch Verkürzungen und Versäumnisse vorzuwerfen, doch fair wäre das nicht: Mamczaks Perspektive ist souverän, zumal sie die eines „Machers“ darstellt, der die SF von Grund auf kennt. Ärgerlicher ist hingegen der Verzicht auf Literaturangaben und eine solide Bibliographie, was das Vorhaben aus akademischer Perspektive – erstaunlich für einen Verlag wie Reclam – auf tönerne Füße stellt. Aber sei‘s drum: Mamczaks Vorhaben ist nun einmal mehr essayistischer als streng wissenschaftlicher Natur. Dies erklärt auch einige Unschärfen in der Argumentation: So betont der Autor, SF käme keine „prognostische Funktion“ zu, und er weiß selbstverständlich, dass die entsprechenden Texte – wie etwa Wilde Saat von Octavia Butler (im Shop) – keineswegs zwangsläufig in der „Zukunft“ spielen müssen. Doch Mamczak kommt an beiden Begriffen nicht vorbei, wenn er SF als Kulturtechnik auffasst, die durch den Blick auf das Morgen das Heute verändern soll. Dass die Kopplung von Kunst an gesellschaftliche Relevanz das Risiko einer kreativen Verengung mit sich bringt, weil sie – zur Forderung erhoben – inhaltlich wie formal nicht selten als Korsage funktioniert, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Trotz dieser Einwände ist Mamczaks Studie – eine Leseprobe findet sich hier – eine wichtige Schrift. Zum einen, weil sie in kompakter und gut nachvollziehbarer Form die Konstituenten und die Historie eines schwer erklärbaren Genres erläutert, zum anderen, weil sie das ungeheure Potential einer Literaturform aufzeigt, die sich nach einer künstlerisch-intellektuellen Blütephase seit langem in einer gravierenden Krise befindet. Dies ist für 100 Seiten ein hochbeachtliches Ergebnis.

Sascha Mamczak: Science-Fiction. 100 Seiten • Sachbuch • Reclam • 100 Seiten, mit Abbildungen und Infografiken • Taschenbuch: 10 €

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