„The Violence“ von Delilah S. Dawson

Aktueller kann ein feministisch-dystopischer Science-Fiction-Thriller über Gewalt gegen Frauen sowie über eine alles verändernde Viruserkrankung als Brandbeschleuniger wohl kaum sein: In Delilah S. Dawsons Roman „The Violence – Wie weit würdest du für deine Freiheit gehen?“ (im Shop) breitet sich das titelgebende Violence-Virus quasi mit Moskitoflügeln auf der Welt aus. Es verwandelt Menschen kurzzeitig in hyper-gewalttätige Zombies, die sich hinterher, nach ihrem Ausraster, an nichts mehr erinnern können. In explosionsartigen Attacken gehen die Infizierten ohne Vorwarnung brutal auf ihre Mitmenschen los und versuchen sie zu töten, etwa im Supermarkt-Gang oder in der Schul-Cafeteria. Irgendwann legt die Regierung fest, dass Erkrankte angezeigt und zur Sicherheit aller festgenommen werden können.

Die in Luxus und Terror verheiratete zweifache Mutter Chelsea sieht darin eine Chance, ihrem Mann David zu entkommen, der sie seit Jahren misshandelt – der sie einschüchtert und in den Spitzen seiner trunkenen Tyrannei sogar in einen Würgegriff nimmt, als wäre das völlig normal, sein gutes Recht als ihr Gatte. Also ruft Chelsea eines Tages, da David wieder einmal auf sie losgeht, die Polizei und bezeichnet ihren Mann als infiziert, sodass er verhaftet wird. Daraufhin bekommt sie nicht nur einschüchternden Besuch von Davids Cop-Kumpel. Plötzlich gilt Chelsea selbst als infiziert und muss fliehen. Während sie sich einer Wrestling-Show in der Manier von „Glow“ anschließt, die mit der Violence-Krise kokettiert, müssen auch Chelseas fiese, von ihrem Mann abhängige Mutter Patricia und Chelseas von ihrem Freund schikanierte Tochter Ella in einer veränderten Welt gegen unveränderte männliche Gewalt kämpfen: Gegen „Raubtiere, die sich mit einem Lächeln tarnen“, wie es im Roman heißt …

Die 1977 geborene Amerikanerin Delilah S. Dawson hat schon so einiges geschrieben, angefangen bei ihrer Steampunk-Buchserie „Blud“ oder ihrer Weird-Western-Reihe „Shadow“ (letztere unter dem Pseudonym Lila Bowen). Zudem schuf sie mit Co-Autor Kevin Hearne die witzige „Tales of Pell“-Fantasy-Trilogie. Hinzu kommen offizielle Romane und Kurzgeschichten zu „Star Wars“ (im Shop) oder Comics zu „Rick and Morty“, „Firefly“, „Adventure Time“, „Marvel Action: Spider-Man“ und „Akte X“. Ihr eigenständiger Einzelroman „The Violence – Wie weit würdest du für deine Freiheit gehen?“ ist aber mit Sicherheit Dawsons persönlichstes und bis dato wohl wichtigstes Buch.

Dawson schreibt im Vorwort, dass sie und ihre Mutter unter ihrem trinkenden, gewalttätigen Vater leiden mussten, und das in einer Zeit, als mit solchen Dingen noch anders umgegangen wurde, man nicht einfach so im Internet dies oder jenes nachlesen und sich Hilfe suchen konnte. Manche Szenen in „The Violence“ sind von Dawsons eigener Kindheit, ihren eigenen Erfahrungen mit häuslicher Gewalt und Misshandlung durch einen Mann inspiriert, und so sollte man die einleitenden Worte der New York-Times-Bestsellerautorin ein Stück weit auch als Trigger-Warnung verstehen.

Ob Atwood (im Shop) oder Doctorow (im Shop): In den besten dystopischen Science-Fiction-Werken verwischt die Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Wirklichkeit und Fiktion, auf schockierend-glaubhafte Weise – weil wir uns die Albträume, die Schrecken, die Überwachung, die Unterdrückung problemlos als Realität vorstellen können, oder sie sogar schon als solche empfinden. Deliah S. Dawsons „The Violence“ setzt als Post-Covid-Literatur im Jahr 2025 ein, beginnt wie ein feministischer Thriller ohne Science-Fiction und schafft es schnell, ein glaubhaftes Near-Future-Szenario um eine Pandemie herum zu entwickeln, in dem das Violence-Virus keineswegs das größte Übel darstellt. Leider eben deshalb, weil die in diesem Fall generationenübergreifende Gewalt gegen Frauen in unserer Gegenwart schon so verbreitet ist und durch „unsere Pandemie“ bekanntlich zugenommen hat.

Delilah Dawson: The Violence – Wie weit wirst du für deine Freiheit gehen? • Roman • Aus dem Amerikanischen von Maike Hallmann • Wilhelm Heyne Verlag, München 2023 • 688 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: € 18,00 • im Shop