27. Februar 2023 1 Likes

„Die Kolonie“ von Wang Jinkang

Ein SF-Roman aus China – zwischen Kulturrevolution, Dystopie, Utopie & Ameisen-Altruismus

Lesezeit: 3 min.

Es gab Zeiten, da hätte niemand damit gerechnet, je einen Ant-Man-Blockbuster im Kino zu sehen – und jetzt läuft dieser Tage schon der dritte bildgewaltige Ant-Man-Solofilm in den mehr und mehr von Marvel sowie der Science-Fiction dominierten Lichtspielhäusern. Und es gab Zeiten, da war chinesische SF-Literatur international schlichtweg nicht zugänglich – was sich ebenfalls mit einem inzwischen multimedialen Welterfolg geändert hat, natürlich „Die drei Sonnen“ von Cixin Liu (im Shop). Trotz der fantastischen Dimensionen dieser Erfolgsstorys bleiben kleine Ameisen in diesem Text das Thema, wenn wir uns im Folgenden Wang Jinkangs SF-Roman „Die Kolonie“ (im Shop) zuwenden, der fast zeitgleich mit dem aktuellen Ant-Man-Streifen auf Deutsch herausgekommen ist.

Denn nicht nur im Werk von Chinas SF-Superstar Cixin Liu finden sich gleich mehrere Geschichten mit und über Ameisen – im berühmtesten Roman von Lius Kollegen Wang Jinkang spielen die selbstlosen, zahllosen Krabbeltiere ebenfalls eine wichtige Rolle. Der 1948 geborene Jinkang zählt neben Cixin Liu und Han Song zu den „Großen Drei“ der chinesisch-sprachigen Science-Fiction, was die Beliebtheit und Verbreitung in seiner Heimat angeht – und die Zahl der gewonnenen SF-Preise. Allerdings schreibt SF-Experte John Clute in der „Encyclopedia of Science Fiction“, dass Jinkang paradoxerweise zugleich die am meisten übersehene Genre-Gestalt aus China sei, in Sachen internationale Übersetzungen deutlich im Schatten sowohl älterer als auch jüngerer Schreibender stünde. Umso besser, dass nach Wang Jinkangs Erzählung in der Anthologie Quantenträume“ (im Shop) nun ein erster Roman von ihm auf Deutsch zugänglich wird.

Der setzt inmitten der Kulturrevolution in China ein, als für den Traum der kommunistischen Utopie vor fünfzig Jahren absolut dystopische Zustände im Land geschaffen wurden – nicht zuletzt wurden junge Intellektuelle aus der Stadt jahrelang auf Arbeitsfarmen in der Pampa verfrachtet, um sie mit landwirtschaftlichen Tätigkeiten und Strapazen umzuerziehen. Wang Jinkang selbst verbrachte in den 1970ern mehrere Jahre in so einer Kommune, später wurde er in eine Eisengießerei und ein Kraftwerk geschickt. Erst 1978, als sich das politische Klima in China erneut wandelte, konnte er die Universität besuchen. 1993, im Alter von 44 Jahren, veröffentlichte er schließlich seine erste Science-Fiction-Kurzgeschichte. 2007 publizierte er seinen bekanntesten Roman „Die Kolonie“.

Die Studentin Guo Qiuyun und ihr Freund Yan Zhe arbeiten darin 1971 auf einer Reisfarm in der Provinz Henan. Als sie sexuelle Übergriffe des niederträchtigen Farmleiters anzeigen wollen, soll Yan Zhe ermordet werden. Doch der Sohn eines Insektenforschers, dessen Spezialität Ameisen gewesen sind, hat ein Ass im Ärmel: Ein Serum aus dem Nachlass seines Vaters, das den Altruismus von Ameisen auf Menschen überträgt. Yan Zhe und Guo Qiuyun hoffen, dass ihre Farm sich so zu einer friedlichen Insel der Selbstlosigkeit und der Seligkeit inmitten eines Meers der Gewalt und des Zwangs entwickelt. Aber natürlich kommt es anders …

Wang Jingkang vermittelt in seinem Roman nicht bloß ein eindrucksvolles, faszinierendes, erschreckendes Bild des Lebens während der Kulturrevolution in China, das es mit jedem Historienroman aufnehmen kann. Außerdem zeigt er in „Die Kolonie“ durch Geschichtliches, Fantastisches und Ameisen-Analogien, wie nah die Schönheit der Utopie und die Schrecken der Dystopie beisammen liegen, ja, wie sie miteinander verbunden und verwachsen sein können – sowohl in der Historie und der Wirklichkeit, als auch in der Fiktion und der Science-Fiction.

Wang Jinkang: Die Kolonie • Roman • Aus dem Chinesischen von Marc Hermann • Wilhelm Heyne Verlag, München 2023 • 480 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: € 16,00 • im Shop

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.