Winterlektüre: Phantastisches und Dystopisches
Neue Romane und Comics von Cécile Wajsbrot, Hannah Whitten, Veronica Roth, Ram V und Filipe Andrade
Wenn sich das Jahr zu Ende neigt, sind Rückblicke nicht weit. Manche Titel gehen dabei leicht unter ‒ und es wäre viel zu schade, sie nicht zu empfehlen. Es folgen drei Bücher und ein Comic für lange Winterabende.
Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Die Ich-Erzählerin in Cécile Wajsbrots „Nevermore“ (im Shop) jedenfalls nicht. Sie übersetzt in Dresden „To the Lighthouse“. Der Roman schildert die Urlaube der Familie Ramsay und ihrer Besucher auf der Isle of Skye. Das Besondere hieran: Woolf wählt hierfür einen Zeitraum, der die Jahre vor und nach dem Ersten Weltkrieg umfasst und nicht spurlos an den Figuren vorbei geht. Die Prosa der britischen Autorin ist erzählerisch anspruchsvoll, da sie hier wie auch in anderen Werken auf den „stream of consciousness“ setzt. Als Leser:innen folgen wir keinem allwissenden Erzähler, sondern den Gedankengängen einzelner Protagonist:innen. Genau diese Erzählweise spiegelt sich auch in „Nevermore“ wieder. Wenn die Ich-Erzählerin über Fragen, Möglichkeiten und Grenzen des Übersetzens sinniert oder durch Dresden wandert, springen ihre Gedanken von Moment zu Moment und von Ort zu Ort. Bald ist sie gedanklich nicht mehr nur auf der Isle of Skye, sie ist auch im Zweiten Weltkrieg, im sich ständig wandelnden New York und in Tschernobyl nach dem Super-GAU. „Nevermore“ ist keine leichte Kost, aber ein literarisches Abenteuer über Übersetzungen, Verlust und Zeit, ein Kleinod, auf das man sich einlassen muss.
Cécile Wajsbrot: Nevermore • Aus dem Französischen von Anne Weber • btb, München, 2023 • 240 Seiten • Erhältlich als Taschenbuch • Preis: 12,00 € • im Shop
Für Manche scheint das Leben vorbestimmt. Während Neve als Erstgeborene eines Tages herrschen darf, muss Red an ihrem 20. Geburtstag in den Wilden Wald. Laut eines alten Paktes gehört die erste Tochter dem Thron, die zweite dem Wolf. Red hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden, zumal der Wald in ihr Kräfte weckt, die Andere in Gefahr bringen können. Nach einer religiösen Zeremonie stellt sie sich dem unheimlichen Hain. Nachdem sie von mörderischen Bäumen geflüchtet ist, trifft sie in einer heruntergekommenen Feste auf den Wolf. Eammon ist jedoch nicht das Monster aus den alten Sagen, die Red kennt. Er ist der Sohn des ersten Wolfes und versucht verzweifelt, das Böse von den Menschen fernzuhalten. Wie viel Wahrheit steckt in den alten Geschichten? Wie viel ist erfunden? Und was bedeutet das für die Alten Könige, auf deren Rückkehr alle Welt wartet? Während Red die Geheimnisse des Waldes ergründet, setzen Neve und ihre Freund:innen alles daran, die zweite Tochter nach Hause zurückzuholen. Hannah Whittens „Für den Wolf“ (im Shop) ist eine düstere Märchenneuinterpretation von „Rotkäppchen“, die hier und da an „Die Schöne und das Biest“ erinnert. Für ihre TikTok-Sensation baut die US-Amerikanerin auf eine klassische Enemies-to-Lovers-Ausgangssituation. Was diesen Wälzer von anderen Romantasy-Sagas abhebt sind drei Dinge: die tiefe Verbundenheit zwischen den Schwestern, das von Märchen, Pakten, Ritualen getriebene Königreich und der Wilde Wald mit seinen wenig einladenden Bewohner:innen. Ein grimmiges Vergnügen, das im Februar mit „Für den Thron“ (im Shop) weiter geht.
Hannah Whitten: Für den Wolf • Aus dem Amerikanischen von Simon Weinert • Blanvalet, München, 2023 • 608 Seiten • Erhältlich als Paperback, eBook und Hörbuch Download • Preis des Paperbacks: 18,00 € • im Shop
Dystopien über rücksichtslose Herrscher:innen gibt es wie Sand am Meer. Bücher über die Zeit nach ihrer Regentschaft sind eher rar. In „Poster Girl“ (im Shop) widmet sich Bestseller-Autorin Veronica Roth („Die Bestimmung“, „Rat der Neun“) genau diesem Szenario. Zehn Jahre nach dem Ende der „Delegation“ fristet Sonya Kantor ihr Leben in der Aparatur, einem Gefängnis für jene, die dem alten Regime treu ergeben waren. Die Mittzwanzigerin war zwar während des Umsturzes noch eine Teenagerin, war aber auch das Gesicht der „Delegation“: Das Poster mit ihrem Antlitz und dem Motto „Was recht ist, ist richtig“ prangerte überall an den Wänden. Während jüngere Gefangene die Möglichkeit erhalten, ein Leben in Freiheit zu führen, scheint dies für das „Poster Girl“ unerreichbar. Dann bekommt sie von der neuen Regierung ein Angebot, das sie nicht ausschlagen kann: Findet sie Grace Ward, die als dreijährige ihren Eltern weggenommen wurde, kommt sie frei. Die Suche konfrontiert Sonya mit den Abgründen der „Delegation“ und mit den Geheimnissen ihrer Familie. Veronica Roths neuer Roman überzeugt durch ihre Heldin wider Willen, die sich einerseits der neuen Gegenwart anpassen und andererseits ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss. Dabei zeigt die New Yorkerin auch, wie leicht sich Menschen durch geeignete Mittel – in diesem Falle technische Überwachung und ein Social-Credit-System – auf Loyalität trimmen lassen. „Poster Girl“ mag nicht der beste Roman des Jahres sein, aber er ist ein starkes Plädoyer für Gerechtigkeit und Freiheit.
Veronica Roth: Poster Girl. Wer bist du, wenn dir niemand zusieht? • Aus dem Amerikanischen von Petra Koob-Pawis • Penhaligon, München, 2023 • 416 Seiten • Erhältlich als Hardcover, und eBook • Preis des Hardcovers: 22,00 € • im Shop
Der Tod und der Junge
Die Geburt eines Kindes ändert für Eltern alles. Und manchmal bringt sie selbst die Götterwelt ins Wanken. So auch in „The Many Deaths of Laila Starr“, der neuen magisch-realistischen Graphic Novel von Ram V („Black Mumba“, „The Swamp Thing“). Als in Indien ein Junge das Licht der Welt erblickt, ist für Götter und Göttinnen klar: Er wird den Menschen den Weg in die Unsterblichkeit weisen. Wen braucht es daher in absehbarer Zeit nicht mehr? Den Tod. Also wird die Göttin ihres Amtes enthoben und auf die Erde geschickt – in einer sterblichen Hülle, dem Körper von Laila Starr. Alsbald entdeckt die Göttin nicht nur die schönen Seiten des Menschseins, sondern begegnet auch demjenigen, dem sie ihr Schicksal zu verdanken hat. Ob sie es dennoch ändern kann? Der indische Comicautor Ram V erzählt eine faszinierende, vom Hinduismus geprägte Geschichte über Leben und Tod, Freude und Trauer, Glück und Verlust. Seine Graphic Novel ist zugleich das Porträt eines Landes, in dem Moderne auf Traditionen trifft. Eingefangen wird diese opulente, philosophische Geschichte über das Leben vom Portugiesen Filipe Andrade (Captain „Marvel“, „Walled City“). Sein fast schon psychedelischer Farbrausch ergänzt Ram Vs teilweise unkonventionelle Erzählweise – und bildet den passenden Rahmen für eine Göttin des Todes, die zu leben anfängt.
Ram V, Filipe Andrade: The Many Deaths of Laila Starr • Aus dem Amerikanischen von Jörg Faßbender • Cross Cult, Ludwigsburg, 2023 • 128 Seiten • Preis: 25,00 €
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