22. April 2013

Auferstehungshilfe

„Die Stille nach dem Ton“ – Preisgekröntes vom SFCD

Lesezeit: 7 min.

Seit dem Jahr 1985 verleiht der große und ehrwürdige SFCD, der Science Fiction Club Deutschland, den SFCD-Literaturpreis, der seit 1999 »Deutscher Science-Fiction-Preis« (DSFP) heißt. Ausgezeichnet werden sollen jeweils der beste Science-Fiction-Roman und die beste deutschsprachige Science-Fiction-Kurzgeschichte des Jahres. Verantwortlich für die Auswahl der Preisträger ist ein Komitee aus – derzeit dreizehn – ehrenamtlichen Mitgliedern. Zum Auswahlmodus bestimmt die Geschäftsordnung unter anderem: »1. Das Komitee liest und bewertet deutschsprachige SF, die im jeweiligen Jahr, für das der Preis vergeben wird, tatsächlich zum ersten Mal erschienen ist. 2. Die Texte müssen dem Bereich der Science Fiction oder der allgemeinen Fantastik entstammen. Im Zweifelsfall wird diese Definition zugunsten eines Textes ausgelegt.« Der Preis ist derzeit mit € 1000,– dotiert; anlässlich der Preisverleihung wird eine Laudatio gehalten.

Die vorliegende Sammlung aller bislang prämierten Kurzgeschichten ist als Ganzes großartig, fantastisch und unverzichtbar, und sie ist es aus mehreren Gründen:

Erstens enthält sie etliche tatsächlich wunderbare Stücke fantastischer Literatur.

Zweitens dokumentiert sie, was in Science-Fiction-interessierten Kreisen einmal für preiswürdig gehalten worden ist – manchmal in einleuchtender, manchmal eher schwer nachvollziehbarer Weise. Leider – und dies empfinde ich als das einzige Manko dieses Buches – fehlen die Lobreden, die vielleicht helfen könnten zu verstehen, was der Zeitgeist sich bei der einen oder anderen Wahl gedacht hat.

Drittens – und dies ist wieder rundum positiv – enthält sie neben einem Vorwort von Mitherausgeber Ralf Boldt und DSFP-Komiteemitglied Thomas Recktenwald ein außerordentlich kluges Vorwort von Wolfgang Jeschke, der zur Sache Science-Fiction-Kurzgeschichte redet. Dieses Vorwort hat es jedenfalls in sich, denn es ist alles andere als eine Lobhudelei der Form und ihrer Erfüllung durch deutschsprachige Schriftsteller, die hier zur Leistungsschau antreten.

Zum Vorwort später. Die Leistungsschau jedenfalls kann sich sehen lassen: Die Reihe der Autoren (und der wenigen Autorinnen, wie Karla Schmidt und Heidrun Jänchen) wird eröffnet von Thomas Rudolf Peter Mielke, der sich rühmen darf, Miterfinder des Überraschungs-Eis zu sein. Reinmar Cunis wurde ebenso prämiert wie Ernst Petz, Rainer Erler (»Das Blaue Palais«), Gert Prokop, Egon Eis (der das Drehbuch für die Verfilmung des Edgar-Wallace-Romans »Der Frosch mit der Maske« schrieb) und Norbert Ströbe. Man liest Gutes und Überragendes von Andreas Eschbach, Andreas Findig und Andreas Fieberg, von Marcus Hammerschmitt und Frank W. Haubold; Michael Marrak ist zweimal vertreten, Michael Iwoleit und Wolfgang Jeschke sogar dreimal – 28 Geschichten und 23 Preisträger.

Natürlich erspare ich mir den Versuch, den Inhalt von 28 Geschichten nachzuerzählen, die oft ihrer Anlage nach auch noch auf eine Pointe zulaufen. Dazu mögen sich Spaßverderber berufen fühlen. Einige Schlaglichter aber möchte ich doch werfen, weil sie möglicherweise bezeichnend sind für die Gattung beziehungsweise ihre Behandlung in unserem Sprachraum.

Einem weit verbreiteten Missverständnis zufolge gehe es in Science-Fiction-Kurzgeschichten um Ideen. Das ist natürlich Unsinn. Short Storys welcher Art auch immer sind literarische Kunstwerke, und Literatur wird nicht aus Ideen gemacht, sondern aus Sprache. Die großen und vorbildlichen Short Storys aus dem angelsächsischen Sprachraum sind immer und in erster Linie sprachliche Kunstwerke. Und warum sollte irgendeine Literaturgattung auch Sonderrechte für sich beanspruchen, sich von sprachlichen Ansprüchen dispensieren zu können?

Möglich, dass alle hier versammelten Geschichten zu ihrer Zeit vor Ideen gefunkelt oder geglüht haben. Als Leser aber möchte ich mich nicht unbedingt zum Ideenhort vorkämpfen müssen durch Textpassagen wie beispielsweise dieser aus der Story »In der Freihandelszone« von Heidrun Jänchen:

»Joye schwabberte sich den Obstwhisky auf die Hose. Wenn er je eine perfekte Frau gesehen hatte, dann war es diese. (…) Die hochgezüchteten Supermodels der Erde waren ein Dreck dagegen, ein Nichts aus Haut, Knochen und Klamotten. Hier jedoch, das war das pralle Leben, voller Leidenschaft, Farbe und Feuer. Er seufzte, als sie zu tanzen begann. (…) In seinem Hirn herrschte eine große, angenehme Leere. Nur in seiner Hose war es plötzlich viel zu eng.«

Oho – wann und wo wäre eine Erektion je schöner besungen worden? Die ganze Geschichte klingt so bemüht hard boiled und so rettungslos kleinkariert, dass man sich dringend Aufklärung über ihre Preiswürdigkeit gewünscht hätte.

Selbst Iwoleit, der mit drei Stories ja offenbar in der Erfolgsspur Richtung Herz des Komitees schreibt, kann sprachlich durchaus nicht immer überzeugen. Seine drei Geschichten sind nicht nur die drei längsten, sondern neigen auch am meisten zum Schwadronieren. In seiner Geschichte »Ich fürchte kein Unglück« heißt es beispielsweise:

»›Ich habe eine Theorie‹, sagte sie an einem unserer letzten Abende. Wir hatten noch einmal seit den Morgenstunden alle beischlaftauglichen Möbel in meinem Zimmer strapaziert (…) ›Ich glaube, dass jeder Mensch zu einem bestimmten Zweck geschaffen wurde. Jeder von uns hat eine besondere Aufgabe.‹ – ›Darf ich raten, was deine ist?‹ – ›Raus damit.‹ – ›Du bist mein Untergang. Meine Nemesis. Wenn ich Pompeij bin, dann bist du der Vesuv.‹«

So viel postkoitaler Pomp muss dann wohl sein, zumal (wie es dort geschrieben steht) »nach zehn Jahren emsiger Studien«. Dem Erzähler »dröhnte der Schädel« – kein Wunder bei so viel sprachlichem Ballast. Am Ende der Erzählung steht des Erzählers Bekenntnis, ein Credo von geradezu kirchenväterlicher Wucht: »Es heißt, der Gedanke sei ein Abkömmling der Not. Ich behaupte eher: Der Glaube ist ein Abkömmling der Not. (…) ich bin mir sicher, dass ich meine Selbstsucht, meine jämmerlichen Hoffnungen, meine grenzenlose Einfalt verfluchen werde. Aber ich weiß auch: Ich werde lieben. Und deshalb fürchte ich kein Unglück.«

Vielleicht ist das die Hauptnot selbst der prämierten und zweifellos ideenreichen Geschichten: Zu oft muss ein sprachlich klischeereicher Text eine große Nachdenklichkeit tragen, Verlautbarungen über die Welt und ihre metaphysischen Spiegelräume, Gott und Ewigkeit. Dann wirkt es mitunter, als hätte der Autor das, was er zu erzählen hat, aufwerten wollen durch eine höherwertige Thematik. Und tatsächlich laufen die Storys immer wieder, läuft selbst die im Übrigen witzig, spannend und wendungsreich von Michael Marrak erzählte Titelgeschichte der Sammlung auf eine Begegnung mit dem lieben Gott hinaus, zumindest aber – wie in Marcus Hammerschmitts ansonsten beeindruckenden und für Bewunderer des mysteriösen Reiches der Pilze anziehenden Geschichte »CANEA NULL« – auf die Apotheose eines vernunftbegabten Planeten namens Canea, einen ganzen Himmelskörper, der sich die ihn besuchenden und erforschenden Menschen in einem apokalyptischen Schlussakt einverleibt:

»Draußen hat sich der Himmel verfinstert, weil zwei gigantische Wolken die Sonne verdecken. (…) Einige der Menschen schreien, versuchen zu fliehen, werfen sich zu Boden. Viviane schreit: ›Es sind Sporenwolken! Ihr müsst keine Angst haben! Der Planet liebt uns!‹«

Kleiner gab’s die Liebe hier wohl nicht.

Dass es auch anders geht, dass Science Fiction durchaus unaufwendig und dennoch berührend davon erzählen kann, wie sich Zukunft in menschlichen Dimensionen abspielt, beweisen Autoren wie Andreas Eschbach, der »Die Wunder des Universums« in einem Kammerspiel aufführt und dessen Dialoge niemals so klingen, als hätte jemand mit jahrelanger Emsigkeit nach gleißenden Vokabeln gefahndet, um am Ende mit dröhnendem Schädel dazusitzen und großzutun. Dass es anders geht, beweisen in dieser Sammlung auch Andreas Findig, Frank Haubold, Karla Schmidt und insbesondere Wolfgang Jeschke. Jeschkes Geschichten sind im Ton eigenständig, souverän, ihre Sprache ist von durchsichtiger Klarheit und lässt Zukunft (oder die Vision davon) unbemüht im menschlichen Erfahrungshorizont aufleuchten, will sagen: Jeschkes, Eschbachs und die Geschichten einiger anderer der hier vertretenen Autoren leben aus den Figuren heraus, und diese Figuren verdingen sich gerade nicht als Kulis und Bannerträger für Ideen.

Ja, einige der hier abgedruckten Geschichten weisen sprachliche Mängel auf, die sich Literatur außerhalb der Science Fiction nicht würde leisten wollen. Aber selbst diese Defizite sind instruktiv. Der weit überwiegende Teil der Erzählungen weiß gut bis prächtig zu unterhalten und beweist, eine wie leserfreundliche Form die Science-Fiction-Short-Story sein könnte. Dass sie und warum sie dennoch vom Markt weitgehend verdrängt worden ist, untersucht Jeschke in seinem vorzüglichen und auch dem Leser gegenüber nicht liebedienerischen Vorwort, das allein den Erwerb dieses schönen Buches rechtfertigen würde:

»Die Texte wurden (…) länger, die Romane dicker und dicker. Das schien und scheint dem Publikum zu behagen. Das Zeitalter der Trilogien, der Serienhelden setzte ein. Der Leser will sich nicht mehr alle paar Seiten mit neuem Personal anfreunden. Er behält lieber die gewohnten, ausgelatschten Hausschuhe an. Mit der Fantasy hat sich dieser Trend noch verstärkt.«

Und wer wollte mit einem Blick auf die immer neuen Berichte aus der Vorzeit, aus Zwergen-, Orks- und Elfenwelt bezweifeln, dass hier vor allem eines verkauft wird: erzählerische Behaglichkeit?

Behaglich, das wird man den hier versammelten Werken attestieren müssen, sind die prämierten Geschichten nicht. Sie erstaunen, rütteln auf und – ja – sie ärgern; sie kommen manchmal zu großspurig daher, sind sprachlich zu unbedacht und wirken hausgemacht und unlektoriert. Aber sie haben das Engagement noch nicht verloren, das Science Fiction immer ausgezeichnet hat: an die Grenzen des Denkbaren zu gehen und einen Schritt darüber hinaus, um nachzusehen, wie der Mensch sich dort draußen verhält.

Wolfgang Jeschke schreibt: »Die Science-Fiction-Kurzgeschichte ist tot, inzwischen auch die Science-Fiction-Novelle. Kein Verlag nimmt heute noch Manuskripte von Erzählungen entgegen.« Wenigstens in diesem Punkt versucht die vorliegende Sammlung ihrem Bevorworter Wolfgang Jeschke zu widersprechen: Hier sind sie, die Science-Fiction-Kurzgeschichten, vom verdienstvollen SFCD preisgekrönt. Mögen sie viele Leser finden und dadurch dieser großartigen Form ein wenig Auferstehungshilfe leisten.

Ralf Boldt / Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Die Stille nach dem Ton • Preisgekrönte Kurzgeschichten des SFCD-Literaturpreises 1985–1998 und des Deutschen Science-Fiction-Preises 1999–2012 · Verlag p.machinery, Murnau am Staffelsee 2012 · 392 Seiten · € 28,90

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.