22. August 2012

Die schwierigen Stoffe

Die Strugatzki-Werkausgabe 3

Lesezeit: 6 min.

Für den Science-Fiction-Leser unverzichtbare Werke haben in der schnelllebigen Buchhandelswelt der neueren Zeit einen schweren Stand. Bedrucktes Papier wird palettenweise in die Läden der großen Ketten hineingeschoben, um dort rasch »abverkauft« oder ebenso rasch verramscht zu werden. Die Zyklen, in denen die Paletten hinein- und wieder hinausfahren, werden dabei immer kürzer. Die Zahl der klassischen SF-Titel, die seit Ewigkeiten nicht mehr lieferbar sind, wächst und wächst, nur wenig im Zaum gehalten von Reihen wie »Meisterwerke der Science Fiction«.

Da leuchtet ein Vorhaben wie die Werkausgabe von Arkadi und Boris Strugatzki wie ein Leuchtturm im dichten Nebel: Erstmals kommen die Werke der berühmten russischen Gebrüder so in den Buchhandel, wie sie ursprünglich gedacht waren – befreit von all den teils ärgerlichen, teils sinnlosen Zensurmaßnahmen, die zuerst die Kulturbürokratie der Sowjetunion ihren Texten angetan hatte, ehe bei den DDR-Ausgaben noch einmal ganz genau hin­geschaut wurde (um es euphemistisch auszudrücken). Erik Simon hat die ungekürzten, unverstümmelten Fassungen der Autoren wiederhergestellt und versieht die neuen deutschen Ausgaben mit zahlreichen Anmerkungen, die dem Leser hierzulande den Zugang zu den Texten erleichtern. Die ziegelsteindicken Bände sind nicht chronologisch geordnet und erheben auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, was angesichts der oft komplizierten Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Bücher auch kaum zu bewerk­stelligen wäre. Stattdessen sind sie nach thematischen Gesichtspunkten zusammengestellt worden, was dem Leser – zumal einem Strugatzki-Erstentdecker – natürlich entgegenkommt.

Der erste Band versammelte zum ersten Mal die komplette und ungekürzte Maxim-Kammerer-Trilogie aus »Die bewohnte Insel«, »Ein Käfer im Ameisenhaufen« und »Die Wellen ersticken den Wind« nebst knapp fünfzigseitigem Anhang zur Geschichte und Erläuterung der Trilogie. Eine hervorragende Einstiegsdroge für jeden, der die Strugatzkis vorher nicht kannte.

Der zweite Band enthält die Romane, die sich um großangelegte Menschenversuche drehen, und wie die Menschen damit umgehen; da man die ganze Sowjetunion mit etwas Sarkasmus auch als sehr großen und sehr gruseligen Menschenversuch bezeichnen könnte, ergibt auch diese Zusammenstellung Sinn. Neben dem berühmten »Picknick am Wegesrand« (Aliens verstreuen ihre unbegreiflichen Artefakte auf der Erde, darunter eines, das angeblich Wünsche erfüllt) enthält der zweite Band »Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang« (wollen wirklich Außerirdische verhindern, dass sich die Menschheit weiterentwickelt?) und schließlich »Das Experiment« (eine fremde Macht hat Menschen aus aller Herren Länder in eine rätselhafte Stadt verfrachtet und beobachtet ihre Reaktionen).

Im dritten Band der Strugatzki-Werkausgabe (im Shop ansehen) nun finden sich einige jener Texte, die von den Autoren selbst für ihre besten, aber auch ihre schwierigsten gehalten werden. Da wäre zunächst der Roman »Die Schnecke am Hang«, dessen Publikationsgeschichte allein schon einer surrealen Erzählung gleicht. Ursprünglich als abenteuerliche Gorbowski-Erzählung geplant (das war der strahlende Held aus den Frühwerken der Gebrüder), geriet den Strugatzkis der Roman nach und nach zu einer sehr dichten, komplexen Satire. Zusammengesetzt aus zwei parallel verlaufenden Handlungen, durfte der Text in der Sowjet­union nicht erscheinen, jedenfalls nicht komplett. Eine der beiden Hälften – der Handlungsstrang im Wald – konnte jedoch als Buch gedruckt werden, während die andere Hälfte – die Handlung rund um die Verwaltung – nur in einer Zeitschrift erschien, die danach aus den Bibliotheken entfernt wurde (mitsamt den Illustrationen des SF-Autors Sewer Gansowski, die man sich heute im Internet anschauen kann: http://vu.chertkov.ru/node/57). Der unterdrückte Text wurde dann im Samisdat verbreitet, trug zum Nimbus der Autoren und zur Paranoia der Staatsmacht bei – das eine war eine komplizierte Exponentialfunktion des anderen – und wurde schließlich im Westen gedruckt. Erst 1988 erfolgte ein erster Gesamtabdruck auf Russisch.

Die nun vorliegende, wie schon gewohnt vervollständigte und durchgesehene Textfassung weist den Roman als eine frühe Abrechnung mit dem Irrsinn eines Staatsapparates aus, der alles Mögliche und vor allem seine eigene zweifelhafte Existenzrechtfertigung betreibt, nur eben nichts Sinnvolles tut … und dabei die Menschen, die unter seinen Eskapaden leiden, in den Wahnsinn treibt. Vor allem ist er nicht imstande, in dem rätselhaften Wald, auf den er von seiner Klippe aus in mehr als einer Hinsicht hinabsieht, das zu erkennen, was wirklich vor sich geht. Eine Frauen­zivilisation, die ohne Männer auskommt und in einer Art Symbiose mit dem Wald lebt, ist nur einer von vielen wirklich phantastischen Einfällen. Der Forscher hingegen, der mitten im Wald lebt und nicht in der Lage ist, aus all den sichtbaren Details ein Gesamtbild zusammenzusetzen, gleicht dem einem undurchschaubaren Staatswesen ausgelieferten Bürger, dessen Versuche, dem Leben zu trotzen, einer endlosen Kette von Versuch-und-Irrtum-Kata­strophen nahekommen. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Verschwinden der Sowjetunion liest sich das allerdings nicht wie eine Satire auf etwas, das es nicht mehr gibt, sondern sehr aktuell. Unbelastet von historischen Informationen kann der Leser die Verwaltung und vielleicht auch den Wald heute gerne für eine Satire auf die Eurobürokraten halten. »Stumpfes verwaltetes Vieh«, wie es Franz Fühmann in »Die Ohnmacht« nannte, gab’s dort und gibt es hier noch reichlich.

»Die zweite Invasion der Marsmenschen« ist eine weitere bittere Satire: Als Aliens die Menschen benutzen, um ihren aus unerfindlichen Gründen begehrenswerten Magensaft zu ernten, fügen sich die Menschen in ihr Schicksal, essen brav das blaue Getreide, das die Magensaftproduktion ankurbelt, und denken gar nicht daran, sich zu wehren. Im Gegenteil, sie betrachten jeden, der gegen die Versklavung der Menschen angeht, mit äußerstem Misstrauen, geht es ihnen doch im Großen und Ganzen gut. Dieser Text, in dem alle Menschen die Namen griechischer Gottheiten tragen, ist völlig zeitlos und funktioniert aufs Beste als Satire auf die »Erst-kommt-das-Fressen-und-dann-die-Moral«-Bierzeltseligkeit.

»Die Last des Bösen, oder: Vierzig Jahre später« ist der letzte Roman, den die Strugatzkis gemeinsam verfassten, ehe Arkadi 1991 starb, und er ist auch einer ihrer kompliziertesten Texte, wie Boris im Nachwort unumwunden zugibt. Der Roman versucht, einen Ausblick auf ein Russland vierzig Jahre nach dem Untergang der alten Sowjetunion zu geben, und verzahnt diese Vision mit der Geschichte eines auf die Erde zurückkehrenden Jesus, der wie üblich in solchen Geschichten gar nicht erbaut ist über das, was er da vorfindet.

Komplettiert wird der dritte Band der Werkausgabe von zwei Texten, die Arkadi Strugatzki mehr oder weniger allein geschrieben (wenn auch zusammen mit seinem Bruder konzipiert) und unter dem lange Zeit geheimnisumwitterten Pseudonym »S. Jaros­lawzew« veröffentlicht hat: »Aus dem Leben des Nikita Woronzow« und »Ein Teufel unter den Menschen«.

Nikita Woronzow war ein Mann, der nicht nur den Tag seines Todes im Voraus kannte, sondern sein Leben viele Male lebte, immer wieder zurückgeworfen in seinen jugendlichen Körper, mit den Erfahrungen eines unvollendeten Lebens versehen; eine gespenstische Geschichte.

In »Ein Teufel unter den Menschen« wird dem Leben eines Exmajors nachgegangen, der nicht nur in Tschernobyl gewesen war, sondern offenbar auch – womöglich deswegen? – seltsame Fähigkeiten besaß. Hat er sich wirklich mit überirdischen Kräften an allen Menschen gerächt, die ihm jemals Böses angetan haben? Oder war er einfach der Teufel?

Damit ist der dritte Band der Werkausgabe tatsächlich der anspruchsvollste, ehe im vierten eher abenteuerliche Stoffe zu lesen sind (darunter – als Ergänzung zur »Schnecke am Hang« – die erste, die Gorbowski-Version des Stoffes, eigentlich ein ganz anderes Buch).

Für solvente Liebhaber richtig altmodisch fest gebundener Bücher gibt es übrigens eine Luxusausgabe der auf sechs Bände angelegten Werkreihe, die neu gesetzt, mit Schutzumschlag, Lesebändchen und Buchschmuck versehen im Golkonda-Verlag erscheint. Die beinahe dekadente, in rotes Ziegenleder gehüllte Version ist bereits vergriffen.

Arkadi & Boris Strugatzki: Werkausgabe - Dritter Band • Herausgegeben von Sascha Mamczak und Erik Simon · Wilhelm Heyne Verlag, München 2011 · 896 Seiten · € 10,99 (im Shop ansehen)

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