Ich werde niemals sterben
Gary Shteyngarts „Super Sad True Love Story“
»Liebstes Tagebuch, heute habe ich eine wichtige Entscheidung getroffen: Ich werde niemals sterben.« – Unsterblichkeit also, darum geht es Gary Shteyngart in seinem Roman, in dem wir der tragikomischen Romanze zwischen Lenny Abramov, einem alternden New Yorker Intellektuellen mit Minderwertigkeitskomplex, und Eunice Park, einer koreanischstämmigen Twentysomething-Tusse mit pausenlosem Onlinekommentar im Vordergrund und einem gewalttätigen Immigrantenvater im Hintergrund, durch ein dystopisches Amerika der nahen Zukunft folgen.
Nun, Unsterblichkeit ist ein, wenn nicht das Lieblingsthema der Science Fiction – der Traum vom Eingang des Menschen in die selbsterzeugte Transzendenz. Die Frage ist nur: Kann Gary Shteyngart, der sich mit seinen bisherigen Romanen (unter anderem dem »Handbuch für den russischen Debütanten« und »Snack Daddys abenteuerliche Reise«, beide bei Rowohlt) eher als Stimme der neuen US-amerikanischen Immigrantenliteratur einen Namen gemacht hat, diesem wahrhaft ewigen Thema ein paar neue Aspekte abgewinnen, die es über eine reine Genre-Fingerübung hinausheben?
Lenny Abramov ist neununddreißig Jahre alt, arbeitet für Posthumane Dienstleistungen, eine Firma, die ihren Kunden mikrobiologische und schönheitschirurgische Dienste anbietet, um ihnen zu wortwörtlicher Unsterblichkeit zu verhelfen. Zu Beginn des Romans befindet sich Lenny noch in Rom, wo er sich um potenzielle Kunden kümmern soll. Auf einer Party lernt er Eunice Park kennen, eine fünfzehn Jahre jüngere Amerikanerin koreanischer Abstammung, und verliebt sich sofort in sie – was ihn zum Kauf eines Tagebuchs und zum oben zitierten vollmundigen ersten Satz motiviert.
»Und dennoch wird Lenny Abramov, demütiger Tagebuchschreiber, winzige Nichtigkeit, ewig leben. Die Technologien beherrschen wir fast schon. Als Koordinator der Öffentlichkeitsarbeit Lebensfreude (Ebene G) in der Abteilung Posthumane Dienstleistungen der Staatling-Wapachung Corporation, werde ich als Erster davon profitieren. Ich muss mich nur gut führen und an mich glauben.«
Was »sich gut führen« genau bedeutet, erklärt Lenny seinem Tagebuch ebenfalls:
»Muss mich von Transfetten und Fusel fernhalten. Jede Menge grünen Tee und alkalisiertes Wasser trinken und mein Genom den richtigen Leuten zur Verfügung stellen. Ich muss meine schrumpfende Leber wieder wachsen lassen und mein gesamtes Blut durch ›SmartBlood‹ ersetzen und mir ein sicheres und warmes (aber nicht zu warmes) Plätzchen suchen, wo ich das Wüten der Jahreszeiten als auch die Massenvernichtungen aussitzen kann. Und wenn die Erde vergeht, was sie sicher tun wird, dann verlasse ich sie und begebe mich auf eine neue Erde, mit mehr Grün, aber weniger Allergenen …«
Damit steht also Lenny Abramovs Lebenskonzept fest: Unsterblichkeit durch Liebe und Zukunftstechnologie. Ein Konzept, das sofort hart auf den Prüfstand gestellt wird. Zurück in New York City kommt er in ein Land, das durch einen Krieg in Venezuela, selbstmörderische Finanzspekulationen und einen immer schwächer werdenden Dollar am Rande der Selbstauflösung balanciert. Für Lenny heißt das, dass er quasi als Fremder zurückkehrt und dementsprechend auch fast wie ein Immigrant behandelt wird.
Ähnlich wie bei Thomas Pynchon geht mit dieser äußeren Auflösung auch eine wachsende innere, geistige Entropie, eine informationstheoretische Auflösung einher. Als Lenny vom Flughafen kommt und an mehreren Sperren des Militärs vorbei muss, wird die Schizophrenie von Zukunftsgläubigkeit und Gegenwartsverweigerung sichtbar – und zwar auf der Beschilderung eines Panzers:
»ES IST VERBOTEN, DIE EXISTENZ DIESES FAHRZEUGS (DES ›OBJEKTS‹) ZUR KENNTNIS ZU NEHMEN, BEVOR MAN 1 KM VOM SICHERHEITSRADIUS DES JOHN F. KENNEDY INTERNATIONAL AIRPORT ENTFERNT IST. INDEM SIE DIESES SCHILD LESEN, LEUGNEN SIE DIE EXISTENZ DES OBJEKTS UND STIMMEN DIESER VEREINBARUNG ZU.«
Einen anderen Aspekt dieser inneren Auflösung offenbart die elektronische Korrespondenz von Eunice Park, die den anderen Blickwinkel des Romans liefert. Hier wird die real existierende SMS-Twitter-Facebook-Sprache verkürzt und vergröbert, bis nur noch emotional aufgeladene Sprachfetzen wie »IGIMGK« (Ich glaub, ich muss gleich kotzen!) und »BGM« (Bloß gefickt, Mann!) übrig bleiben. Nichtdigitale Konversation (das gute alte Miteinandersprechen) heißt »Texten«, während Lesen auf das »Scannen« nach interessantem Content reduziert wurde.
Eunice kehrt ebenfalls in die Staaten zurück, und halb aus Unentschlossenheit, halb aus Geldmangel zieht sie bei Lenny ein. Aus Lennys Sicht bricht das Glück auf Erden an, während Eunices Textnachrichten ihre nicht ganz überwundene Abscheu vor Lennys Alter und seiner altmodischen Intellektualität zeigen. Andererseits ist sie gerührt von seiner aufrichtigen Leidenschaft und Begeisterung für sie – Gefühle, die sie bei ihren bisherigen Lovern vermisst hat.
Mangel an emotionaler Nähe, damit können sowohl Lenny als auch Eunice etwas anfangen, denn beide stammen aus Einwandererfamilien und müssen sich mit den Identitätsproblemen der zweiten Generation herumschlagen: Lenny mit seiner krampfhaften Suche nach Anerkennung und Gleichstellung mit seinen Kollegen auf der einen, Eunice mit ihrer Zerrissenheit zwischen Selbstfindung und Selbstaufgabe und ihrem Beschützerinstinkt gegenüber ihrer Mutter und Schwester auf der anderen Seite.
Indem Shteyngart die USA seines Romans kurzerhand in eine von China und Norwegen kontrollierte Wirtschaftszone verwandelt, gelingt ihm allerdings ein wirklich genialer Trick: Plötzlich sind alle US-Bürger quasi Immigranten im eigenen Land, und Shteyngart kann die nationalen und sozialen Befindlichkeiten dieser megalomanischen Weltmacht wieder auf ihren nackten, schutzbedürftigen Kern zurückführen, nämlich auf das Einwandererdasein, auf das Aus-dem-Nichts-Kommen, auf das Wieder-von-vorn-anfangen-Müssen, mit dem die Geschichte dieses Landes überhaupt begann.
In »Super Sad True Love Story« endet diese Geschichte im Ausverkauf der US-Wirtschaft an die chinesische Währungsmacht. Das UN-Gebäude wird zu einer riesigen Shopping- und Freihandelszone für Wohlhabende, während die alten New Yorker Stadtviertel zerbombt oder aufgegeben werden. Lenny Abramov findet sich inmitten dieser katastrophalen Ereignisse wieder – für einige Zeit fällt sogar flächendeckend das Internet aus, was zahllose Selbstmorde unter jungen Leuten zur Folge hat – und muss nun versuchen, nicht nur sein Leben zu retten, sondern auch Eunice zu halten. Denn Eunice hat inzwischen Lennys Chef kennengelernt und mit ihm eine Affäre angefangen. Zu guter Letzt macht Eunice nach einer Firmenparty mit Lenny Schluss, und beide bleiben als das zurück, was sie bereits zu Anfang des Romans waren: Lenny ein intellektueller Dinosaurier und Eunice eine sinnsuchende Unerwachsene.
Verschiedene Rezensenten haben Gary Shteyngarts Roman genau das vorgehalten: dass seine Figuren nicht dynamisch genug seien und zu wenig Entwicklung durchmachten, insbesondere Lenny. Doch wer den Schluss des Romans genau liest, begreift, dass der eigentliche Held des Romans die Tagebuch- und E-Mailtexte sind – das McLuhan’sche Medium selbst. Wer den Spagat zwischen dem »guten alten« Tagebuch und der Flüchtigkeit der Onlinekonversation mitmacht und aushalten kann, hat sich als Leser am Ende des Romans selbst bereits als Teil dieser heraufdämmernden Welt erwiesen – und das ist die Entwicklung, die Gary Shteyngarts Roman mit uns durchläuft.
»Ich werde niemals sterben.«
Mit diesen nicht gerade unprätentiösen Worten jagt Gary Shteyngart nicht nur die aktuelle Weltwirtschafts- und -finanzkrise auf höchstem Tempo durch den Mixer. Nein, er nimmt sich auch unseres immer stärker ausgeprägten High-Tech-Fetischismus an, indem er ihn in ein globales Pausenhof-Porno-Teenie-Getwitter verpackt und ihn seinen Hauptfiguren als schicke, »Äppärät« genannte Smartphone-Kieselsteine um den Hals hängt.
Shteyngart macht das sehr geschickt. Im launig-ironischen Tonfall eines New Yorker Trendbloggers erzählt er von »Posthumanen Dienstleistungen«, von »SmartBlood« und einer »neuen Erde« – aber seine Erzählung führt uns immer wieder in unsere Gegenwart. Eine Gegenwart, die bereits von einer alles zersetzenden hedonistischen Unsterblichkeitssehnsucht geprägt ist und deren Sprachverfall immer weiter voranschreitet. »Super Sad True Love Story« funktioniert insofern letztlich weniger als Science-Fiction-Roman und mehr als phantastische Parodie der Realität. Als solche ist es allerdings ein genialer Roman – denn greller, einfallsreicher und wortmalerischer kann man die gegenwärtige intellektuelle und moralische Krise der liberalen Moderne kaum ausmalen.
Das ist die Krise, über die Gary Shteyngart eigentlich schreibt und die ihn in eine Linie mit Ray Bradburys »Fahrenheit 451« stellt. In einem Interview mit der New York Times erklärte er: »Darum ging es Bradbury doch letztlich: um eine Zukunft ohne Bücher. Nicht nur um eine autoritäre Regierung, die Bücher verbrennt – nein, um Menschen, die auf einmal keine Bücher mehr lesen wollen!«
Jeder Leser, jeder Facebook- und Twitter-Nutzer, jeder Aktienbesitzer, jeder Fleischesser und Gemüsekocher, jeder Bücherliebhaber möge diesen Roman lesen und die supertrauriglustige Welt von Lenny und Eunice das nächste Mal, wenn man den Internetbrowser anwirft oder den Tabletcomputer zur Hand nimmt, als geistige Hintergrundfolie mitlaufen lassen. Denn wer weiß, wie lange wir das noch können und wollen: lesen.
Gary Shteyngart: Super Sad True Love Story • Roman · Aus dem Englischen von Ingo Herzke · Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011 · 464 Seiten · € 19,95
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