22. Juli 2013

Extrapolationen

„2112 - Die Welt in 100 Jahren“ – Ein ehrgeiziger Versuch

Lesezeit: 5 min.

Das Thema des Buches, die Welt in hundert Jahren zu skizzieren, ist, ob ironisch-gebrochen oder ernsthaft, für jeden Autor eine Herausforderung. Wenn man einzelne Beiträge liest, überkommt einen aber das Gefühl, dass manche wohl erst nach ihrer Zusage gemerkt haben, auf was sie sich da eingelassen haben. Also werden »Sicherheitsnetze« aufgespannt: Man wählt die Zuflucht zur Ironie oder hält sich streng an den eigenen Fachdiskurs. Die Mehrzahl der Autoren bleibt monothematisch in den Grenzen ihrer Disziplin und betreibt eine ausführliche abgesicherte Gegenwartsanalyse, um dann zu vorsichtigen Extrapolationen zu kommen. Dabei wäre eine generalisierende Sicht, die die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären bei einer speziellen Fokussierung berücksichtigt, sicher ergiebiger, sie ist aber (noch) schwieriger zu leisten.

Das »Reflexivwerden von Zukunft« (Claus Leggewie) ist ein weiteres Denkhindernis, was den Erkenntniswert und den Spaß an der Sache mindert. Leggewie schreibt, dass die Autoren des Vorläufer-Buches aus dem Jahr 1910, herausgegeben von Arthur Brehmer, noch viel unbefangener in die Zukunft hinein extrapoliert haben. Ein bekennender Kolonialist etwa habe über die Zukunft der Kolonien spekuliert, die Deutschland nur wenige Jahre später abhanden kamen. Das hat sich hundert Jahre später geändert. Man will die Falle der bloß linearen Extrapolation umgehen und gerät nun in die Sackgasse einer Bedenkenträgerei, ob man überhaupt was über das Morgen aussagen kann. Außerdem ist zu beobachten, dass es zwar ein breites Spektrum an Prognoseinhalten gibt, ob nun eher positiv oder negativ gestimmt, ob eher technologisch oder ökologisch orientiert, diese Visionen jedoch eher »kleinteilig«, überschaubar bleiben. Die techno-optimistischen Panoramen noch der Sechziger sind größtenteils ad acta gelegt.

Stanisław Lem schrieb 1980 im Nachwort zu seinem Buch »Dialoge«: »Könnte man das in der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts herrschende Weltbild kennen, so könnte man daraus sehr viel über den Stand der Wirtschaft, über neue Disziplinen, neue Probleme und Konflikte erfahren. Woher aber dieses Bild nehmen? Seine Ursprünge stecken in den am weitesten vorangetriebenen Entdeckungen der heutigen Wissenschaft, sodass man nach den entsprechenden Informationen suchen und dann aus ihnen auf eigene Gefahr extrapolieren muss. Die Extrapolation muss von solchen Entdeckungen, solchen Theorien ausgehen und nicht von ›komplexen Entwicklungstrends‹, denen die erste Krise die Weiche verstellt.« Für dieses Buch gilt jedoch, dass solche Grenzgebiete der Wissenschaft gar nicht aufgesucht werden. Nicht in der Physik, nicht in der Kosmologie, nicht in der Mathematik oder sonst wo. Der Darstellung einer möglichen zukünftigen Produktionsweise von Wissenschaft ist noch nicht einmal ein eigenes Kapitel gewidmet.

Viele der Autoren stammen – wie der Herausgeber – aus Österreich und sind einer bundesrepublikanischen Öffentlichkeit eher unbekannt. Kein Name eines deutschsprachigen Futurologen oder Science-Fiction-Autors taucht auf, was schon verwunderlich ist, sind diese doch am ehesten mit »wildem« Zukunftsdenken vertraut (was natürlich keine Erfolgsgarantie im Sinne der Lem’schen Aussage ist). Manche der eingeladenen Autoren versuchen mittels Erzähltechniken, sich dem Gegenstand zu nähern, was ein zwiespältiges Vergnügen ist. Der Literaturkritiker Denis Scheck beispielsweise richtet seine »Klagenfurter Rede« im Juni 2112 ans »Pfotenvolk«, da es bei den Hunden erstaunliche Entwicklungen bis dahin gegeben hat und sie begonnen haben zu schreiben – gewissermaßen als wörtliche Übersteigerung der Phrase, dass etwas »auf den Hund gekommen« ist. So wird ein Namedropping etwas anderer Art vorgeführt und Namen wie »Tasso Pynchon« und »Struppy Lem« fallen – wenigstens haben auch die mutierten Caniden eine Vorliebe für Science Fiction.

Behandelt werden Themen wie Umwelt, Medizin, Wirtschaft, Bildung, Verkehr, Krieg, Politik, Sport. Die Entwicklung der Künste wird gezeigt anhand von Theater, Musik, Literatur und Malerei. Unvermeidbar sind thematische Überschneidungen. Auffallend ist aber, dass es keine Kapitel zum Themenkomplex Familie/Geschlechterverhältnis/Liebe/Sexualität gibt. Die »Welt der Alten« (Rainer Münz) wird berücksichtigt, aber es ist kein Abschnitt zum Generationenkonflikt zwischen Jugend/Eltern/Alten zu finden. Auch fehlen bedeutsame Aspekte wie die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse oder des Verhältnisses von erster und sogenannter »Dritter Welt«. Fehlanzeige auch bei einem hochspekulativen Topos wie Künstliche Intelligenz.

Ein Thema wie Ernährung wird dafür gleich doppelt abgehandelt. Die beiden zuständigen Autoren sind sich einig, dass Kochen Schulfach und als Kunstform anerkannt werden wird. In einem kurzen uninspiriert wirkenden Beitrag zum Thema Religion meint Adolf Holl, dass die Frömmigkeit zunähme, da die Armut steigen werde und die meisten Armen eben gläubig seien. Für die Zeit hundert Jahre voraus hat er die hoffnungsvolle Vision, dass es einen südamerikanischen Papst aus Brasilien geben möge. Nun ja. Einen »freundlichen Faschismus« mit Google und Facebook befürchten sowohl Harald Welzer als auch Claus Leggewie, bei dem die Bürger durch ihr Netzverhalten selbst die Daten für ihre Überwachung liefern. Norbert Bolz interpretiert dieselben Phänomene als Zeichen für eine kommende »barrierefreie Öffentlichkeit«, bei der Politik und Bürger auf Augenhöhe seien. Durch das Netz werde die klassische Politik überflüssig, der Wähler werde zum Entscheider. Welzer illustriert darüber hinaus die Folgen des Klimawandels, was noch am ehesten einer (pessimistischen) Panorama-Sicht nahekommt.

Am interessantesten sind die Szenarien, die mit wissenschaftlichen Informationen gespeist sind. Der Genetiker Markus Hengstschläger formuliert als Hypothese für 2112: »Jedes Kind wird bei der Geburt nicht nur seine gesamte Genkarte erstellt bekommen, sondern auch eine nanotechnologisch hergestellte Maschine (also von unvorstellbar kleiner Größe) in seinen Körper injiziert bekommen. Diese Maschine wird durch das Blutsystem jedes Menschen (und darüber hinaus in alle seine Organe und Körperteile) praktisch wie ein U-Boot ein Leben lang fahren.« Letzteres erinnert an den SF-Film Die phantastische Reise von Richard Fleischer aus dem Jahr 1966. Peter Weibel liefert in seinem Beitrag »Exo-Evolution« als einer der wenigen den Versuch einer umfassenden Zukunftsvision. Er schreibt unter anderem über Algenplantagen, die nanotechnologische Materialrevolution und eine enorm ausgeweitete Infosphäre: »Datenwelten werden uns daher umschwirren, die ununterscheidbar von der natürlichen Umwelt sind.«

Bei Norbert Bolz findet sich das avancierteste technische Konzept des Buches: »Stanisław Lems ›Ethosphäre‹ aus dem Roman ›Lokaltermin‹ von 1982 kehrt heute als sogenannter ›utility fog‹ wieder: ein Medium schwebender intelligenter, das heißt programmierbarer und kommunikationsfähiger Molekülmaschinen, die informieren, heilen und schützen.« Der Begriff »utility fog« selbst ist allerdings auch schon zwanzig Jahre alt. Der Physiker und Ex-Astronaut Ulrich Walter erzählt in einem fiktiven Tatsachenbericht von einer Reise eines Lotteriegewinners zum Erdtrabanten, auf dem im 22. Jahrhundert eine fortwährend unterhaltene Station existiert. Während der Tourismus in den nahen Orbit floriert, ist das Passagieraufkommen zum Mond noch begrenzt. Walter beschreibt anschaulich Phasen der Vorbereitung, des Ablaufs und des Aufenthalts; Höhepunkt ist das Erlebnis einer Sonnenfinsternis – von einer anderen Position im solaren System aus. Eine sympathische Technikutopie ganz im Geist der Sechzigerjahre – und eine Ausnahme in diesem Sammelband.

Ernst A. Grandits (Hrsg.): 2112 - Die Welt in 100 Jahren • Olms Verlag, Hildesheim/Zürich/New York 2012 · 302 Seiten · € 19,80

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