5. September 2014 4 Likes 2

You’ll never leave Harlan alive

Harlan Ellison – Porträt des Künstlers als zorniger Mann

Lesezeit: 6 min.

Der gerade auf Deutsch erschienene Sammelband „Ich muss schreien und habe keinen Mund“ (im Shop) mit 20 seiner besten und wichtigsten Erzählungen bietet eine tolle Übersicht von Harlan Ellisons Schaffen. Zu seiner Person, seinem Leben und dem Einfluss seines gigantischen Werks als einer der wichtigsten amerikanischen Kurzgeschichtenautoren des 20. Jahrhundert gibt es allerdings noch ein bisschen mehr zu sagen. Über diesen nimmermüden Streiter und unbestreitbaren Genius, der seit jeher kein Blatt vor den Mund nimmt – der schimpft und zankt und wütet und poltert und auch schon mal übers Ziel hinaus schießt und der sich aus Verärgerung über das Business und die Respektlosigkeit gegenüber dem Urheberrecht seiner Geschichten sogar seinen Namen hat schützen lassen …

Harlan Ellison wurde am 27. Mai 1934 in Cleveland, Ohio geboren und wuchs größtenteils in Painesville auf. Dort verlebte er nicht unbedingt das, was man als idyllische Kindheit bezeichnen würde: Der junge Harlan Ellison war kleiner und schlauer als alle anderen und entstammte der einzigen jüdischen Familie der Stadt – kindliche Grausamkeiten fanden ihn wie Wärmesuchraketen. Ellison lernte früh, sich durchzusetzen, mit Fäusten wie mit Worten. Später arbeitete er bei einem Wanderzirkus, als Fischer, als Taxi- und Truckfahrer, als Koch und vieles mehr.

Ellison kann sich längst nicht mehr daran erinnern, wieso er 1953 von der Ohio State University geflogen ist. Also, er weiß schon noch, dass er einen Professor verprügelt hat – aber er kann sich nicht mehr des Grundes der Auseinandersetzung entsinnen. Ist auch nicht weiter wichtig, denn daraufhin zog Ellison nach New York City (wo er zeitweise im selben Haus wie Robert Silverberg wohnte) und kümmerte sich darum, sein gewaltiges schreiberisches Talent zu Geld und sich ferner einen Namen als Schriftsteller zu machen.

Nicht einmal zwei Jahre in der Army konnten verhindern, dass er eine Legion von Artikeln und Storys verfasste und verkaufte (Ellisons erste Story erschien 1956 im Magazin „Infinity“). In dieser Periode brachte Ellison auch sein Romandebüt „Web of City“ an den Mann, einen autobiografisch gespeisten Hard-Case-Krimi (Ellison hatte sich in eine Bande eingeschlichen) und einer der wenigen Romane in Ellisons ansonsten geradezu gewaltigem Portfolio, das im Grunde alle textschaffenden Disziplinen umfasst – neben Kurzgeschichten und Drehbüchern schrieb Ellison in seiner langen Karriere Kolumnen, Rezensionen, Comics und Essays; zudem hielt er Vorträge an Colleges.


A Boy and His Dog (1975)

1962 zog Ellison zunächst nach Kalifornien, um an der Westküste seine Schreibmaschine vor allem Drehbücher für TV-Serien ausspucken zu lassen, darunter „Star Trek“, „The Outer Limits“ und „The Alfred Hitchcock Hour“ (in späteren Jahren fungierte Ellison als kreativer Berater für „Babylon 5“ und die Neuauflage von „The Twilight Zone). Doch wie für andere begnadete Autoren und ausgeprägte Persönlichkeiten, barg Hollywood für Ellison, dessen Geschichten und Novellen ebenfalls als Folgen und Filme adaptiert wurden (später drehte man sogar einen Dokumentarfilm über sein Leben und Wirken), nicht nur Freuden. Disney feuerte ihn z. B. nach nur einem Tag, weil er über einen Disney-Porno witzelte (was Ellison mit „At Disney, nobody fucks with The Mouse“ kommentierte), und einmal geriet er mit Frank Sinatra aneinander (was Gay Talese in seiner berühmten Reportage „Frank Sinatra ist erkältet“ festhielt) – um zumindest zwei der prominentesten Anekdoten aus Harlan E.s alles andere denn langweiligem Leben aufzutischen.

Seine produktivste, wichtigste und wohl einflussreichste Schaffensphase als SF-Autor hatte Ellison in den 60er und 70er Jahren. Eine Aufzählung selbst seiner wichtigsten Texte – seiner abwechslungsreichen Geschichten, die mal scharfkantig, mal schroff, mal brutal, mal derb, mal sanft, mal zärtlich sein können – wäre freilich mehr als eine Fleißarbeit. Tatsächlich gibt es in „Ich muss schreien und habe keinen Mund“ einige von Ellisons visionärsten und besten Storys und Novellen in einem praktischen, letztlich unverzichtbaren Band: Darunter der mit Don Johnson als Film und von Richard Corben als Comic verarbeitete Endzeit-Evergreen „Ein Junge und sein Hund“; die zeitlos gute und treffliche, sich vor Orwell verbeugende Kurz-Dystopie „’Bereue Harlekin!’, sagte der Ticktackmann“; die deftige Abtreibungs-Story „Croatoan“; der frühe Künstliche-Intelligenz-Horror „Ich muss schreien und habe keinen Mund“; das versponnene außerirdisch-jüdische Science-Fiction-Juwel „Ich suche Kadak“; die lebensbejahende Alien-Geschichte „Die bessere Welt“; das wundervoll bradburynesque „Jeffty ist fünf“; die SF-Sex-Komödie „Das Nachtleben auf Cissala“; oder die Telepathen-Krimi-Novelle „Mephisto in Onyx“ …

All diese Geschichten eignen sich vorzüglich, um den in Deutschland arg vernachlässigten, in den Staaten seit Langem in Ehren gehaltenen Herrn Ellison erstmals oder erneut zu entdecken, und dafür braucht man gar kein Anhänger der Fantastik, des magischen Realismus oder der SF zu sein, die Ellison in den USA streckenweise im Alleingang auf das nächste Level brachte, indem er neue Wege beschritt, voraus eilte oder die bisherigen Spielarten in Momenten echter Genialität zusammenführte oder sonst wie veränderte.

Die britische Science-Fiction hatte die New-Wave-Crew um moderne Meister wie Michael Moorcock und J. G. Ballard – die amerikanische Science-Fiction hatte Harlan Ellison! Er ging voran, erstürmte die nächste Anhöhe und forderte seine zurückfallenden Kollegen dazu auf, ihm zu folgen, die Lücke zu schließen. Ellison war Pionier, Neuerer, Antreiber und Maßstab in einem. Sogar als Herausgeber pushte Ellison mit der bahnbrechenden ersten „Dangerous Visions“-Anthologie 1967 die Genre-Grenzen, da er als treibende Kraft aus den beteiligten Autoren um Fritz Leiber, Philip José Farmer und Philip K. Dick bemerkenswerte Geschichten herauskitzelte, während er die Kreativen und ihre Beiträge mit Ellison-typischen Kommentaren begleitete (eine ungekürzte deutschsprachige Neuauflage des wegweisenden Anthologie-Meilensteins wäre eigentlich längst Pflicht).

Apropos Pflicht. Harlan Ellison sagte einmal, dass es die Pflicht eines Autors sei, abends wütend ins Bett zu gehen und am nächsten Morgen noch wütender aufzustehen. Irgendwann wurde dies das Motto seiner unterhaltsamen, polternden, aggressiven Selbstdarstellung, und dafür lieben wir ihn genauso wie für seine genialen Erzählungen. Denn Ellison stritt sich über die Jahre lautstark mit jedem und allem, mit Mediengiganten und Verlagen, Regisseuren und was sonst bei drei nicht auf dem Baum war und auch nur in dem Verdacht stand, sich inhaltlich an einer von Mr. Ellisons vielen, vielen, vielen Geschichten zu bedienen, in denen Ellison nicht wenige Kernthemen des fantastischen Genres als erster beackert oder zusammengelegt hat (Ellisons Trophäenschrank ist ja nicht umsonst gut gefüllt: Darin finden sich neben sage und schreibe acht Hugo und vier Nebula Awards u. a. noch fünf Bram Stoker Awards, zwei Edgar Awards und zwei World Fantasy Awards; und selbstverständlich erhielt Ellison auch diverse Grandmaster-Auszeichnungen und wurde in alle genre-relevanten Ruhmeshallen aufgenommen; oh, und überdies ist der scharfzüngige Mr. Ellison ein vom emsig gegen Zensur kämpfenden Comic Book Legal Defense Fund ernannter Defender of Liberty. Klar – wenn nicht Harlan Ellison, wer dann?).

Harlan Ellison hat fünf Mal geheiratet, sich viele Freunde und noch mehr Feinde gemacht, eine monströs unanständige Menge hochwertigen Textes produziert – und wenn man Glück hat, kommt man mit dem Leben davon, wenn man ihm begegnet und er sicher ist, dass man ihn, seinen Namen oder sein Schaffen nicht „benutzen“ möchte, ohne einen Cent dafür zu berappen. Doch selbst wenn man ihn überlebt – wenn man den kleinen Mann wie einen Riesen aus der Ferne wüten sieht und lediglich seinem in nicht wenigen Fällen zeitlos guten Schaffen nahe kommt – selbst dann hat der unvergleichliche, ikonische Harlan Ellison die Macht, einen zu verändern.

Mit den Weisheiten und Wahrheiten, die unter all der messerscharfen Polemik zu finden sind, und mit seinen vielfältigen Geschichten, die Leser und Autoren gleichermaßen geprägt haben.

Und noch heute prägen.

Kommentare

Bild des Benutzers Elisabeth Bösl

Ich würde diesen Artikel gerne mehrfach "liken" - Danke dafür!

Irgendwo hat irgendwer mal geschrieben, Harlan Ellison sei wie ein moralischer Kompass, der mitunter in verschiedene Richtungen gleichzeitig zeige - und damit den Nagel auf den Kopf getroffen, meine ich.

Bild des Benutzers Tezla

Danke.

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