13. Januar 2015 1 Likes 1

Futuro-Kommunisten im Weltraum

Iwan Jefremows Meisterwerk der Science-Fiction „Andromedanebel“

Lesezeit: 6 min.

Unsere Sicht auf die Zukunft ist amerikanisch. Schließt man die Augen und stellt sich „die Zukunft“ einmal vor, ist das, was einem als erstes einfällt, meist ein Bild, das auch als Cover für ein Pulp-Magazin dienen könnte. Das empfand der Russe Iwan Jefremow in den Fünfzigern schon so. Einen genuin russisch-kommunistischen Zukunftsentwurf wollte er dem von der englischsprachigen Literatur dominierten Genre entgegenstellen: seinen Roman „Andromedanebel“, der unsere Welt um das Jahr 3000 herum zeigt und uns so eine Zukunft vor Augen führt, die ganz anders funktioniert:

Erg Noor, Kommandant der 37. Sternenexpedition, sollte mit seinem Raumschiff Tantra nach einer erfolgreich beendeten Mission das Schwesternschiff treffen, um Treibstoff für den Rückflug zur Erde aufzunehmen. Doch das zweite Schiff ist verschollen, also versucht die Tantra, die Erde aus eigenem Antrieb zu erreichen. Das Schiff gerät in den Einflussbereich eines dunklen Eisensterns mit hoher Gravitation und muss notlanden. Auf der düsteren Welt entdecken Erg Noor und seine Mannschaft nicht nur ein vor Jahren verschollenes irdisches Schiff, sondern auch ein tellerförmiges Raumschiff, das keiner bekannten Spezies zugeordnet werden kann. Bei der Erforschung des Wracks werden die Kosmonauten von der Dunkelheit überrascht – und dem, was mit ihr kommt …

Zeitgleich legt Dar Weter, der Verantwortliche für die Kommunikation der Erde mit fremden Welten, die den Menschen seit langem in Freundschaft verbunden sind und sich „Großer Ring“ nennen, sein Amt nieder. Er leidet an der Gleichgültigkeit gegenüber seiner Arbeit. Weda Kong, die Geliebte von Erg Noor, bietet ihm an, bei ihren archäologischen Forschungen mitzuwirken, was Dar Weter gerne annimmt. Bei der Übergabe des Dienstes an seinen Nachfolger Mwen Maas empfängt die Erde eine Sendung vom Planeten Epsilon Tucanae: Erstmals sehen die Menschen Bewohner eines fremden Sternensystems, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind. Während Dar Weter versucht, seiner Gleichgültigkeit durch körperliche Arbeit zu entkommen und dabei feststellen muss, dass seine Gefühle für Weda Kong immer stärker werden, ist Mwen Maas zunehmend besessen von der Idee, direkten Kontakt zu den schönen Bewohnern von Epsilon Tucanae herzustellen. Denn alle Sendungen, die die Erde über den Großen Ring empfängt, sind hunderte Jahre alt und zeigen immer nur ein Bild der Vergangenheit. Eine Entdeckung des jungen Physikers Ren Boos scheint es möglich zu machen, Raum und Zeit zu überwinden, doch für das riskante Experiment würde man die Hilfe einer Außenstation benötigen, deren Besatzung dadurch in Lebensgefahr geraten könnte. Mwen Maas sieht sich in einem Zwiespalt: Darf er das Leben anderer um des Fortschrittes Willen gefährden?

Iwan Jefremows „Andromedanebel“ gilt als einer der erfolgreichsten „kommunistischen“ Zukunftsromane und wurde in der ehemaligen Sowjetunion immer wieder aufgelegt. Er erschien erstmals 1957 als Serie im Magazin Техника — молодёжи („Technika – molodjoshi“; übersetzt: Technik – der Jugend), ein Jahr später dann vollständig in Romanform. Jefremows ferne Zukunft ist das Ergebnis jahrhundertelanger Entwicklungen des Menschen auf allen körperlichen und geistigen Gebieten: Der Futuro-Kommunismus, den Jefremow in Anlehnung an Karl Marx als „Ende der Vorgeschichte der Menschheit“ feiert. Nur in dieser klassen- und besitzlosen Gesellschaftsform würden die Menschen erst in der Lage sein, ihre Zukunft selbst zu gestalten, ohne weiterhin von den Wirren und Missständen der Geschichte beeinflusst zu sein (wie Uwe Neuhold in seinem wissenschaftlichen Anhang zu diesem Roman weiter ausführt). Jefremows kommunistische Utopie beschreibt eine Gesellschaft, in der alle wichtigen Entscheidungen im Kollektiv getroffen werden, während der Einzelne sein Leben (nach wie vor definiert durch seine Arbeit) selbst gestalten kann. Dazu gehört auch, dass jeder seine Arbeit frei wählen und frei wechseln kann, sofern er die nötigen Qualifikationen mitbringt. Mit der Produktion von Nahrungsmitteln befasst man sich dabei nicht mehr; nur noch Ingenieure warten die automatischen Algen-Fabriken auf dem Meer. Wer körperlich schwere Arbeit sucht, findet sie in den Minen, sobald man sich ausgepowert hat, sucht man sich einen anderen Job. Interessant sind in diesem Roman vor allem die Menschen, die aus dieser Gesellschaft herausfallen – wie Beispielsweise der Raumschiffkommandant Erg Noor: Er ist unendlich weit von der Erde entfernt und muss daher wichtige Entscheidungen alleine treffen. Das macht ihn zum Helden, anderen Figuren hingegen, wie Mwen Maas, wird sein Alleingang zum Verhängnis. Wo der Unterschied zwischen beiden liegt, sei hier nicht verraten – Spoiler!

Vor diesem gigantischen Gesellschaftsentwurf, der sehr detailreich gestaltet wird und jeden Bereich des Lebens von Kindererziehung über Kunst bis hin zum Verbrechen umfasst, treten die einzelnen Charaktere zurück. Oft wird den Figuren in „Andromedanebel“ vorgeworfen, sie seien zu oberflächlich, und tatsächlich legt der Autor ihnen oft Erklärungen zu seiner Welt in den Mund, weniger persönliche Befindlichkeiten oder Gedanken. Auch die wenigen Konflikte werden auf einem intellektuellen Niveau gelöst, Gefühle analysiert, verstanden und dann nicht artikuliert (was nicht gleichbedeutend ist mit der „Emotionslosigkeit“, die den Figuren immer wieder vorgeworfen wird). Die sachliche Diskussion ist das Mittel zur Konfliktlösung schlechthin, und wann immer ich mich jemandem gegenübersehe, der seine Gefühle mit Argumenten verwechselt, wünsche ich mir, wir wären ein bisschen mehr wie die Menschen in Jefremows Roman. Es ist schließlich nicht so, dass keine Emotionen vorhanden sind – allein die Dreiecksgeschichte zwischen Dar Weter, Weda Kong und Erg Noor ist in höchstem Maße emotional und wird ganz anders gelöst, als man auf den ersten Blick erwartet. Konfliktvermeidung steht für die Figuren an oberster Stelle, und so sind sie immer darauf ausgerichtet, eine „friedliche“ Lösung zu finden. Die Gefühle, die ihnen dabei in die Quere kommen könnten, belasten sie dabei durchaus. Jefremow zeigt hier, dass er Kind einer konfliktreichen Zeit ist, und erinnert in den Strategien seiner Figuren an Stifters „Nachsommer“. 

Diese „Verkopftheit“ der zukünftigen Gesellschaft spiegelt sich beispielsweise auch in der Benennung der Planeten wieder, die in der offiziellen Nennung nur eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen sind. Doch wann immer die Emotionalität einer Figur aufscheint – auch in der Zukunft sind Menschen schließlich noch Menschen – greifen die Figuren auf die alten Bezeichnungen, die Götter-, Helden- und Tiernamen der Sterne, zurück. Auch in der Kunst, die meistens multimedial gestaltet ist und der im Roman ein großer Platz zukommt, drücken sich die Gefühle der Figuren aus, die nichts in den Diskussionen und Entscheidungsfindungsprozessen zu suchen haben. Erg Noor, Mwen Maas, Dar Weter, Nisa Krit und Weda Kong sind alles andere als emotionslose Robotschniks der Zukunft – im Gegenteil: Die Archaik ihrer Gefühle ist etwas, mit dem sie auch in Zukunft ringen, und wenn Mwen Maas ein Missverhältnis zwischen geistiger und emotionaler Entwicklung des Menschen konstatiert, trifft er den Nagel auf den Kopf.

Diese Zurücknahme des Individuums findet sich sowohl auf der Figurenebene, wo sie als Projektionsflächen zur Illustration der Gesellschaft und ihrer Entstehungsgeschichte dienen, als auch auf der Handlungsebene des Romans, denn der Einzelne ordnet sich am Ende den Entscheidungen der Mehrheit unter (die von allen Menschen auf der Erde, nicht von einer Parteispitze, getroffen wurde). Das Reizvolle an Jefremows Roman liegt ohnehin weniger in der konkreten Handlung, sondern vielmehr in seinem umfassenden Weltentwurf inklusive Platz für diejenigen, die sich dem nicht unterordnen wollen – und gerade, wenn ich mir das ansehe, was heutzutage auf der Welt vor sich geht, erscheint es mir durchaus erstrebenswert, zumindest einige Aspekte der Jefremowschen Utopie näher in Augenschein zu nehmen. Und wenn es nur dieser eine ist: „Dar Weter schaltete in beiden Zimmern das Gebläse ein, und wenige Minuten später war aller Staub, der sich angesammelt hatte, verschwunden.“ Ade, stundenlanger Wohnungsputz!

Iwan Jefremow: Andromedanebel • Roman • Aus dem Russischen von Anneliese Kienspann • Mit einem wissenschaftlichen Anhang von Uwe Neuhold • Wilhelm Heyne Verlag, München 2015 • 544 Seiten • € 9,99 (ab 15.01.2015 im Shop

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Kommentare

Bild des Benutzers Hans Schilling

Möchte ein GROSZES DANKESCHÖN an den Heyne Verlag loswerden. Diesen epochalen Roman in einer neuen Übersetzung neu aufzulegen verdient ein Danke. Ein zusätzliches Danke für die Übersetzung des Essays von Jefremow und ein DANKE für das Nachwort von Uwe Neuhold. Wären Nachwörter doch immer so klar strukturiert, schwierige politische Ereignisse in präziser knapper Form dargeboten und ein leicht verständlicher Konsens zur Person Jefremow gefunden wie hier.

Die Nominierungsliste für den Kurt-Laßwitz-Preis wurde doch dieser Tage publik. Vielleicht sollte für die nächstjährige Verleihung eine neue Kategorie dazukommen. Jene für das "Beste Nachwort"

mfg
Hans Schilling

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