1. Juli 2018 2 Likes

Goldene Zukunft

Fünf Utopien, die einen selbst in besonders schlechten Zeiten den Glauben an die Menschheit nicht verlieren lassen

Lesezeit: 6 min.

Wir lieben einen guten Weltuntergang, komplett mit globalen Katastrophen, Zombies, Hungerspielen und rauen Helden und Heldinnen inmitten der Ruinen der Zivilisation. Aber in der letzten Zeit haben wir uns, so scheint es jedenfalls, sobald man sich die Nachrichten zu Gemüte führt, etwas zu sehr an den Weltuntergang angenähert. „Die Tribute von Panem“ schmecken angesichts von Fußball-Weltmeisterschaften in Russland oder Katar eher bitter, „1984“ ist in jedem Handy – es dauert sicherlich nicht mehr lange, bis die ersten Zombies kommen. Wenn Dystopien Realität werden, sind Utopien unverzichtbar. Vielleicht haben sich Kim Stanley Robinson („New York 2140“, im Shop) und Cory Doctorow („Walkaway“, im Shop) deswegen entschlossen, in ihren neuen Romanen etwas optimistischer in die Zukunft zu blicken? Hier sind fünf weitere Utopien, auf die Sie zurückgreifen können, wenn es mal wieder besonders düster am Horizont aussieht:

 

5. H. G. Wells: „A Modern Utopia“

„Die Zeitmaschine“, „Die Insel des Dr. Moreau“ und „Krieg der Welten“ – H. G. Wells wurde nicht gerade bekannt dafür, ein Sonnenschein zu sein. Nach der Jahrhundertwende allerdings änderte sich das: Wells wandte sich den Utopien zu. Zuvor hatte er bereits in Aufsätzen immer wieder Veränderungen gefordert, jetzt wollte er seinen literarischen Ruhm nutzen, seine Forderungen weiter zu verbreiten. 1905 erschien „A Modern Utopia“, in das viele von Wells früheren Gedanken zum Thema eingeflossen sind. Bei einer Wanderung in den Schweizer Alpen fallen zwei Engländer in eine Art Raumfalte und finden sich plötzlich in einer fremden Welt wieder. Sie gleicht in vielen Dingen der unsrigen, sogar ihre Bewohner sind den Menschen ähnlich. Doch die Reisenden befinden sich auf einer Parallel-Erde, die von einer Weltregierung gelenkt wird und in der auch sonst vieles ganz anders ist: alle sprechen dieselbe Sprache, es gibt keine Armut mehr, die Geschlechter sind gleichberechtigt (okay: so gleichberechtigt, wie ein Mann aus dem Victorianischen Zeitalter es sich vorstellen konnte) und die sozialistische Gesellschaftsordnung wird von den sogenannten Samurai, einer Kaste freiwilliger Herrscher, beschützt. Was werden diese modernen Bewohner Utopias von ihren Besuchern halten, die aus einer Welt kommen, die alles andere als perfekt ist? (Keine Sorge, es gibt sogar eine zarte, sehr sittsame Liebesgeschichte – geht also alles gut aus!)

H. G. Wells: A Modern Utopia • Roman • Chapman and Hall, London 1905 • als E-Book erhältlich (z.B. bei Amazon.de ab € 0,49

 

4. Ursula K. LeGuin: „Planet der Habenichtse“

Nachdem sie 1969 ihr feministisches, quasi-utopisches Meisterwerk „Die linke Hand der Dunkelheit“ (im Shop) abgeliefert hat, wandte sich Ursula LeGuin verstärkt diesem Subgenre zu. Der Höhepunkt ihrer Beschäftigung kam 1974 mit ihrem Roman „Planet der Habenichtse“ (im Original „The Dispossessed“, hierzulande auch unter „Die Enteigneten“ und „Freie Geister erschienen): Auf Urras fand einst eine anarchistische Revolution statt, die jedoch gescheitert ist. Die Revolutionäre wurden auf den Nachbarplaneten Anarres verbannt, wo sie seit 200 Jahren ein karges, aber klassenloses und freies Leben führen. Auf Urras hingegen hat sich eine superkapitalistische Gesellschaft entwickelt, die dank technischem Fortschritt zwar in relativem Wohlstand lebt, in der aber die gesellschaftlichen Schichten klar differenziert sind. Beide Welten haben kaum Kontakt miteinander – sehr zum Leidwesen des jungen Physikers Shevek auf Anarres, der an einer Theorie arbeitet, die das Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit ermöglichen könnte. Er beschließt, die Reise nach Urras anzutreten, wofür er von seinen Landsleuten geächtet wird, und mit den dortigen Wissenschaftlern Kontakt aufzunehmen. Dank ihm bekommen wir einen direkten Vergleich der beiden Welten, von denen keine perfekt ist – es aber werden kann …

Ursula K. LeGuin: Planet der Habenichtse • Roman • Aus dem Amerikanischen von Gisela Stege • Wilhelm Heyne Verlag, München 1976 • gebraucht erhältlich

 

3. Ernest Callenbach: „Ökotopia“

Neben seinen sehr viel berühmteren Kolleginnen wie Ursula LeGuin oder Marge Piercy geht der amerikanische Schriftsteller, Journalist und Universitätsprofessor Ernest Callenbach heute etwas unter. In den Siebzigerjahren jedoch war er einer der zentralen Gesellschaftsutopisten, und sein Roman „Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999“ begründete quasi das Subgenre der Öko-Utopie: 1980 spalten sich Kalifornien, Oregon und Washington von den Vereinigten Staaten ab und gründen einen neuen Staat, Ökotopia. Sie wollten die perfekte Balance zwischen menschlicher Gesellschaft um Umwelt erreichen und schotteten sich 20 Jahre lang von ihren Nachbarn ab. Jetzt, im Jahr 1999, darf zum ersten Mal ein ausländischer Journalist, New York Times Reporter Will Weston, Ökotopia besuchen. Der will eigentlich ganz objektiv über den neuen Staat berichten, ist aber von der ersten Minute an fasziniert und abgestoßen zugleich von dem, was er sieht: auf der einen Seite energieeffiziente Mini-Städte, die ganz nach dem strengen Gesetz die Umwelt nicht verschmutzen, eine von Frauen gebildete Regierung, die die 20-Stunden-Woche und den kostenlosen Personenverkehr eingerichtet hat, auf der anderen Seite seltsame Rituale, bei denen Bäume angebetet werden, und ritualisierte Kriegsspiele. Als Weston sich in eine (natürlich sexuell völlig befreite) Ökotopia-Frau verliebt, muss er sich zwischen der „alten“ und der „neuen“ Welt entscheiden …

Ernest Callenbach: Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999 • Roman • Aus dem Amerikanischen von Ursula Clemeur und Reinhard Merker • Rotbuch Verlag, Berlin 1978 • gebraucht erhältlich

 

2. Kim Stanley Robinson: „Pazifische Grenze“

Nicht ganz 30 Jahre vor „New York 2140“ (im Shop) und noch bevor er sein bis heute bekanntestes Werk, die Mars-Trilogie (im Shop) schrieb, entwarf Kim Stanley Robinson mit „Pazifische Grenze“ ein modernes Ökotopia, das auch nach fast drei Jahrzehnten noch eine Blaupause für ein gutes, stabiles Leben in und mit der Natur ist. Wieder einmal ist Kalifornien dabei eine Vorreiterrolle beschieden: Wir schreiben das Jahr 2065. Kevin Claiborne hat sich auf den Bau „grüner“ Häuser spezialisiert, und arbeitet daran, aus El Modena ein modernes Ökotopia zu machen. Er gehört den Grünen an, deren politische Gegner die New Federalists sind. Den einen geht es darum, nachhaltig und umweltschonend zu leben, die anderen verfolgen vor allem wirtschaftliche Interessen. Plötzlich findet Kevin sich in einer Auseinandersetzung wieder, die sich nicht mehr allein auf die politische Bühne beschränkt, und muss erkennen, dass hinter der Öko-Idylle Kräfte lauern, die ihre Ziele um jeden Preis erreichen wollen … „Pazifische Grenze“ ist der dritte Band dr Kalifornien-Trilogie, der jedoch auch problemlos einzeln lesbar ist. Hier zeigt sich in irdischen Maßstäben schon das, was Robinson später in seiner Mars-Trilogie auf einen ganzen Planeten ausgeweitet hat: eine schlüssige Betrachtung aller möglicher Standpunkte zu der Frage, wie wir als menschliche Gesellschaft ein Leben führen können, das uns weder einschränkt, noch zu Umweltzerstörern werden lässt.

Kim Stanley Robinson: Pazifische Grenze. Die Kalifornien-Trilogie, Band 3 • Roman • Aus dem Amerikanischen von Michael Kubiak • Wilhelm Heyne Verlag, München 2016 • E-Book • € 5,99 • im Shop

 

1. Iwan Jefremow: „Andromedanebel“

Unsere Sicht auf die Zukunft ist amerikanisch. Schließt man die Augen und stellt sich „die Zukunft“ vor, sieht das, was einem als erstes einfällt, meist aus wie ein Cover für ein Pulp-Magazin. Das empfand der Russe Iwan Jefremow in den Fünfzigern schon so. Einen genuin russisch-kommunistischen Zukunftsentwurf wollte er dem von der englischsprachigen Literatur dominierten Genre entgegenstellen: seinen Roman „Andromedanebel“, der unsere Welt um das Jahr 3000 herum zeigt. Darin hat die Menschheit alle Fesseln des Kapitalismus abgestreift und lebt in einer glücklichen, klassen- und geldlosen Gesellschaft. Außerdem hat die Erde schon seit längerem Kontakt zu Außerirdischen, denen sie in Freundschaft verbunden sind, die sie aber aufgrund der gewaltigen Distanzen im All nie begegnen werden. Der Roman folgt einer Reihe von Figuren, etwa Raumschiffkapitän Erg Noor, der sich einer Reihe von Gefahren im All stellen muss; die Wissenschaftler Dar Weter und Mwen Maas, der eine depressiv, der andere besessen von der Idee, fremde Sterne zu besuchen, und die Archäologin Weda Kong, Erg Noors Geliebte, die sich unversehens in einer Dreiecksgeschichte mit Dar Weter wiederfindet – beinahe die einzige Sorte von Konflikt, die sich unter den Menschen noch abspielen kann. Doch vor dem gigantischen kommunistischen Gesellschaftsentwurf treten die Figuren zuweilen in den Hintergrund, und so liegt Jefremows Reiz heutzutage weniger in der Handlung seines epochalen Meisterwerks, sondern vielmehr bei seinem umfassenden Weltentwurf.

Iwan Jefremow: Andromedanebel • Roman • Aus dem Russischen von Annemarie Kienpointner • Wilhelm Heyne Verlag, München 2015 • Taschenbuch • 544 Seiten •€ 9,99 • im Shop

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