Die besseren neuen X-Akten
Die Prosa-Anthologie „Akte X: Vertrauen Sie niemandem“
Großer Euphorie folgt recht große Ernüchterung. Denn so richtig überzeugen konnte die neue Mini-Staffel von „Akte X“, deren finale Folge heute Abend auf ProSieben zu sehen ist, leider nicht. Chris Carters legendäre Serie hat sich ihre verspätete zehnte Season zweifellos verdient, aber das Konzept ging in dem halben Dutzend Folgen einfach nicht auf. Das selbstironische Spiel mit dem Akte-X-Mythos und dessen forciertem Kollisionskurs mit dem Zeitgeist gehören sicherlich zur Wiederbelebung eines so reichhaltigen Franchise dazu. Dennoch sollte man sich als Zuschauer nicht ständig fragen müssen: Ist das gerade ernst gemeint? Und dabei war der vermeintliche Mushroom-Trip noch die lustigste Einlage, derweil mit den Agents Miller und Einstein immerhin so etwas wie ein alternativer Weg in eine mögliche Zukunft ohne David Duchovny und Gillian Anderson angedeutet wurde, für den vermutlich jedoch der Mut fehlen wird. Ansonsten waren die sechs Folgen erschreckend schwach. Das fing mit der grausamen Eröffnungsnummer an und zog sich durch die restliche Staffel hindurch.
Dass neue Fälle mit Fox Mulder und Dana Scully auch nach all den Jahren durchaus noch funktionieren können, beweist dagegen die Prosa-Anthologie „Akte X. Vertrauen Sie niemandem“, die gerade als E-Book und als dickes Paperback mit Klappenbroschur bei Cross Cult erschienen ist …
Der preisgekrönte Horror-Autor Jonathan Maberry hat im Original bereits im Sommer 2015 über ein Dutzend Autoren versammelt und neue X-Akten öffnen lassen. Brian Keene, Kevin J. Anderson (im Shop) Tim Lebbon (im Shop) und andere präsentieren Fälle, die mal in den 90ern angesiedelt sind, mal im Hier und Jetzt – und mal noch weiter zurückreichende Verbindungen haben. Dadurch, dass die in nicht chronologischer Reihenfolge abgedruckten Beiträge zu verschiedenen Zeitpunkten der Serien-Kontinuität einsetzen, ergibt sich ein hübscher, kaleidoskopischer Blick auf den eingangs schon erwähnten Mythos und seine Etappen und Details. Hinzu kommt, dass in den Geschichten, in denen Ironie als Stilmittel eingesetzt wird, im Gegensatz zu den neuen Akten im TV die Dosis stimmt, während das generelle Akte-X-Feeling mit dem eifrigen Mulder und der skeptischen Scully eigentlich in jeder Geschichte irgendwann einsetzt und passt. Das liegt an Mulder, Scully, Skinner, Krycek und Co. genauso wie an den Dingen, mit denen sie konfrontiert werden: Fälschungen, Täuschungen, Irrungen, Aliens, Vampiren und dem Twilight-Kult, Alligatormännern, Werwesen, Spukhäusern, Versteinerungen, Mördern, Poltergeistern, Telekinese, Soziopathen, Gestaltwandlern, Zeitportalen und vielem mehr.
Mulder und Scully klingen zumeist, wie sie klingen sollen. Damit der X-Files-Sound stimmt, braucht es also anscheinend keinen Ton und keine Musik, und die gelegentliche stilistische Experimentierfreude in Sachen Perspektive schmeichelt den Texten eher als den neuen TV-Episoden und erinnert an einige denkwürdige Folgen der früheren Staffeln. Die beiden Geschichten im Buch, die Assistant Director Walter Skinner als Hauptfigur haben, gehören sogar zu den besten der gesamten Anthologie. Dass Gini Koch in ihrer Story in einer Szene mächtig übers Ziel hinaus schießt, ausgerechnet Krimi-Veteran Max Allan Collins anfangs stilistisch danebenhaut, wie in jeder Kurzgeschichtensammlung auch ein paar schwächere Geschichten oder ‚Pointen’ dabei sind und der Ausflug in den arabischen Raum weit weniger gefällt als die Ermittlungen in nordamerikanischen Kleinstädten, trübt den Gesamteindruck der Sammlung kein bisschen. Klar, große Erzählkunst sieht anders aus – aber seit wann geht es bei „Akte X“ um große Kunst? Es geht um atmosphärische übernatürliche Fälle mit ungemein vertrauten Ermittlern, bei denen man eine Zeitlang miträtselt, ob paranormal, pervers oder profan, und von diesen Fällen gibt es in „Akte X: Vertrauen Sie niemandem“ mehr als genug, ob man nun ein wahrheitssuchender, misstrauischer Fan der ersten Stunde ist oder die X-Akten bisher lediglich flüchtig durchgeblättert hat.
Mulder und Scully sind zurück, und sie und ihre X-Akten sind so lebendig und cool wie vor 20 Jahren. Eine weitere TV-Staffel muss echt nicht sein – die zweite von Mr. Maberry zusammengestellte Anthologie „The Truth Is Out There“, die vor ein paar Wochen auf Englisch veröffentlicht wurde, darf dafür gerne auf Deutsch kommen.
Jonathan Maberry (Hrsg.): Akte X – Vertrauen Sie niemandem • Cross Cult, Ludwigsburg 2016 • 497 Seiten • Paperback: 16,99 Euro
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