16. September 2019 1 Likes

„Der Surrealismus erwischt uns alle!“

China Miéville entwickelt in „Die letzten Tage von Neu-Paris“ eine bizarre Parallelwelt

Lesezeit: 5 min.

Paris im Jahr 1950: Der Zweite Weltkrieg dauert an. Seit der Explosion einer ominösen „S-Bombe“ hat sich die Stadt stark verändert: Der Eifelturm hängt abgeschnitten in der Luft, Pflanzen schnappen nach Flugzeugen, und unheimliche Kreaturen streifen durch die Straßen; fleischgewordene surrealistische Kunstwerke, die völlig unberechenbar agieren und eine große Gefahr darstellen. Dies umso mehr, da auch die deutschen Besatzer Wege gefunden haben, bizarre „Manifestationen“ in die Welt zu setzen, die direkt aus der Hölle zu stammen scheinen. Nun arbeiten die Nazis an einer besonderen Monstrosität, um den französischen Widerstand endgültig zu brechen.

Marseilles, 1941. Der US-Amerikaner Jack Parsons, ein Ingenieur und Okkultist, ist eigentlich auf dem Weg nach Prag, als es ihm in der französischen Hafenstadt gelingt, Kontakt mit einer Widerstandsgruppe aufzunehmen. Zu dieser gehören auch Künstler und Dichter, die „das Unterbewusste freisetzen wollen“; unter ihnen André Breton, ein Schriftsteller, der die theoretischen Grundlagen der Bewegung formuliert hat, deren Mitglieder sich als „Surrealisten“ bezeichnen. Parsons lernt nicht nur ihn und weitere wichtige Figuren der Gruppe kennen, sondern nimmt auch an ihren Sitzungen teil, an deren Ende erstaunliche kreative Hervorbringungen stehen. Doch Parsons ist nicht der naive Enthusiast, für den er sich ausgibt. Beeinflusst von den Lehren Aleister Crowleys, geht es ihm darum, den Esprit der Gruppe mit Hilfe einer technischen Apparatur einzufangen, um ihn anderweitig nutzbar zu machen. Dies gelingt auch, setzt jedoch eine Kettenreaktion in Gang, an deren Ende eine Explosion in Paris steht – eben die Explosion der „S-Bombe“, die die französische Hauptstadt komplett verwandelt.

Neun Jahre später versucht der vierundzwanzigjährige Thibaut, das vom Krieg stark mitgenommene Neu-Paris zu verlassen. Zwar kontrollieren die deutschen Invasoren nur einen Teil der Stadt, und die von ihnen heraufbeschworenen Dämonen erweisen sich meist als kaum überlebensfähig, aber es ist dennoch gefährlich, sich durch die von Kämpfen erschütterten Straßen zu bewegen. Dazu kommen beunruhigende Hinweise, die Nazis hätten etwas, das sie als „Fall Rot“ bezeichnen, in die Welt gesetzt; offenbar eine Kreatur mit besonderen Eigenschaften. An Thibauts Seite befindet sich Sam, eine amerikanische Fotografin, die an einem Bildband namens Die letzten Tage von Neu-Paris arbeitet. Und es ist dem Franzosen gelungen, einen Cadavre Exquis als Mitstreiter zu gewinnen, ein aus den unwahrscheinlichsten Bestandteilen zusammengesetztes Wesen. Doch wird dies gegen den „Fall Rot“ helfen?

China Miéville schließt in seinem jüngsten Roman die Welten der Phantastik mit denen des Surrealismus kurz. Der Gedanke ist ebenso charmant wie einleuchtend, wenn man an die Ähnlichkeiten beider Sujets speziell im bildkünstlerischen Bereich denkt, allerdings gibt es auch Unterschiede: Phantastik beruht auf rational nachvollziehbaren Gesetzmäßigkeiten, während der Surrealismus ganz eigenen Regeln – wie etwa dem Zufall oder der Umsetzung unterbewusster Prozesse – folgen kann. Dies zeigt sich etwa am Beispiel des „Cadavre Exquis“, eines Spiels, bei dem mehrere Personen an einem Bild oder Text arbeiten, ohne die Beiträge der anderen zu kennen; dabei entstehen Sätze wie „Der köstliche Leichnam wird den neuen Wein trinken“, der dem Verfahren den Namen gab. Wenn im Buch eine entsprechend erstellte Collage zum Leben erweckt wird, klingt das so: „Ein Schraubstock auf Motorteilen auf ungeduldigen Menschenfüßen. Ganz oben das übergroße bärtige Gesicht eines alten Mannes, das ihn mit finsterer Neugier anblickt. In seinem Bart ein Dampfzug von der Größe eines Knüppels, der Schornstein der Lokomotive bläst Rauch in das Haargestrüpp.“ Was hier entsteht, ist größer – und schöner – als jede Vernunft.

Der Roman nutzt den surrealistischen Fundus an Gemälden, Collagen und Zeichnungen als überschäumendes Bilderreservoir, aus dem sich die unwahrscheinlichsten Kreaturen gewinnen lassen. Dazu kommt, dass Miéville neben erwartbaren Motiven von Salvador Dalí, Max Ernst und René Magritte auch solche von weniger bekannten Surrealisten wie Victor Brauner, Dorothea Tanning, Wilfredo Lam, Wolfgang Paalen und Toyen einarbeitet und mit Grace Pailthrope und Pierre Roy sogar Randfiguren würdigt. Hier lassen sich selbst dann Entdeckungen machen, wenn einem der Surrealismus bereits gut vertraut ist (zumal ein klug eingerichteter Anhang beim Identifizieren hilft). Außerdem finden sich im Text immer wieder sorgsam eingebundene Zitate; etwa dann, wenn Lautréamonts berühmtes Diktum, ein Jüngling wäre „schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“, eingeflochten wird. An Passagen wie diesen zeigt sich übrigens, dass sich Übersetzer Andreas Fließner ebenfalls in den Stoff hineingekniet hat.

Dies alles wäre freilich nur Beiwerk, wenn der Plot nicht funktionieren würde. Miéville schildert eine rätselhafte Zone wie Arkadi und Boris Strugatzki in „Piknik na obotschinje(1971, dt. Picknick am Wegesrand“, im Shop), und seine „S-Bombe“ erinnert an die psychedelischen Waffensysteme aus „Barefoot in the Head“ (1969, dt. „Barfuß im Kopf“) von Brian W. Aldiss; Bücher, die auf ihre Weise Maßstäbe gesetzt haben, was die Entwicklung literarischer Science-Fiction betrifft. Hier kann Miéville jedoch nicht ganz mithalten. „Die letzten Tage von Neu-Paris“ ist mit dem Wechsel zwischen semidokumentarischer Thriller- und düsterer Kriegsebene vergleichsweise konventionell geschrieben, liest sich aber gerade deswegen suggestiv und mitreißend. Zudem wäre eine Übernahme surrealistischer Erzähltechniken stark zu Lasten der Handlung (und der Lesbarkeit) gegangen. Lediglich die offensichtliche Zitathaftigkeit der völlig konturlos erscheinenden Trash-Nazis mitsamt irrlichterndem Hollywood-Showdown – Mike Mignolas „Hellboy“-Comics lassen grüßen – ist ein (wenn auch verschmerzbares) Ärgernis.

Mit „Die letzten Tage von Neu-Paris“ wird China Miéville nach „Perdido Street Station“ (2000, im Shop), „The City & The City“ (2009, dt. „Die Stadt & die Stadt“)„ „Embassytown“ (2011, dt. „Stadt der Fremden“) und „This Census-Taker“ (2018, dt. „Dieser Volkszähler“) ein weiteres Mal seinem Ruf gerecht, einer der sprachmächtigsten und einfallsreichsten Autoren der Gegenwart zu sein. Der jüngste Roman kommt nicht ganz ohne Schwächen aus, ist aber schon aufgrund der aufgerufenen Bildwelt einmalig – und gibt ein schönes Beispiel dafür ab, wie weit man die Grenze zwischen Genre und Literatur produktiv verschieben kann.

 

China Miéville: Die letzten Tage von Neu-Paris • Roman • Aus dem Englischen von Andreas Fließner • Golkonda • 247 S. • € 18 E-Book • € 12,99

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