Die Stadt, die Falter und der Tod
Nach zwanzig Jahren: Ein neuer Blick auf „Perdido Street Station“ von China Miéville
Science Fiction ist vieles: Ideenreich, überraschend, bisweilen von großer Bildhaftigkeit. Mit „Perdido Street Station“ hat China Miéville im Jahr 2000 einen Meilenstein des Genres vorgelegt, der diese Eigenschaften bündelt und zu einer eigenen Welt ausbaut, die noch dazu souverän in Fantasy- und Horrorgefilde hineinragt. Anlässe genug, um das mehrfach ausgezeichnete Buch – es bekam u. a. den Arthur C. Clarke Award 2001 und den Kurt-Laßwitz-Preis 2003 – noch einmal zur Hand zu nehmen.
„Mit den länger werdenden Schatten, der Abendkühle und der von der Unterseite der Welt zurückkehrenden Nacht, senkte sich etwas Neues und Schreckliches auf die Stadt hinab. Die Kinder spürten es als Erste. Sie weinten und gruben die Nägel in ihre Handflächen, ihre kleinen Gesichter verzerrten sich zu harten Grimassen; sie schwitzten stark und übelriechend und warfen heftig die Köpfe hin und her, alles ohne aufzuwachen.“ Die Aufregung hat ihren Grund, denn fünf Gierfalter kreisen über New Crobuzon – ebenso rätselhafte wie gefährliche Lebewesen, die ihre Opfer in einem halbtoten Zustand zurücklassen. Dass sie aus ihrer ursprünglichen Gefangenschaft entkommen konnten, hat mit Isaac Dan dar Grimnebulin zu tun, einem Wissenschaftler, der eigentlich damit beschäftigt ist, einem flügellosen Garuda – dem humanoiden Angehörigen eines Jägervolks – zur Flugfähigkeit zu verhelfen. Durch Zufall ist er an eine bunt schillernde Raupe gelangt, deren Appetit auf die Droge Dreamshit eine Katastrophe heraufbeschwor. Nun möchte Isaac gemeinsam mit einigen Getreuen die Gierfalter ausschalten, aber es braucht, bis er erkennt, wogegen er hier eigentlich kämpft. Und dann gibt es noch Konkurrenten, die ganz eigene Ziele verfolgen – doch wie erfolgreich können Menschen sein, wenn sich selbst die Dämonen der Hölle verweigern?
Miévilles New Crobuzon – der größte Stadtstaat auf dem Kontinent Bas-Lag – ist so fremdartig und faszinierend wie Mos Eisley, aber entschieden vielschichtiger. Einerseits ein dampfender und brütender, von Verbrechen und Lastern durchzogener Moloch, andererseits ein Refugium für die Kunst, wird die Metropole nicht zuletzt von dem Miteinander unterschiedlicher Spezies geprägt; den insektoiden Khepri etwa, deren Frauen mittels Kopfdrüsen Skulpturen erschaffen, oder den amphibischen Vodyanoi, die in der Lage sind, Wasser zu schneiden. Zudem stapfen dampfbetriebene Remades durch die Stadt, unter deren Kellern der Weber haust, ein multidimensionales spinnenartiges Wesen, das sich mit Vorliebe vage und unbestimmt äußert.
Vor dieser Kulisse schafft Miéville eine faszinierende Abenteurerzählung, die nicht nur mit facettenreichen Charakteren und jeder Menge bizarrer Einfälle besticht, sondern darüber hinaus auch eine engagierte Geschichte erzählt. New Crobuzon trägt Züge eines frühindustriellen Polizeistaats, der mit Gewalt gegen streikende Dockarbeiter vorgeht, keine freie Presse erlaubt und mit Verbrechern paktiert; es wird rasch deutlich, warum Miéville 2017 eine (bislang unübersetzte) Geschichte der Oktoberrevolution veröffentlicht hat. Allerdings wurde von dem auch politisch aktiven Autor nie ein Zweifel daran gelassen, dass es ihm bei seinen Projekten in erster Linie auf das Geschichtenerzählen ankommt. Die sozialkritische Haltung grundiert das farbenprächtige Buch und sorgt dafür, dass die Anbindung zur Realität überzeugend gewahrt bleibt.
„Perdido Street Station“ – der Titel bezieht sich übrigens auf einen großen Bahnhof in der Mitte von New Crobuzon – lässt sich mit seinen Bezügen zur Viktorianischen Ära durchaus als Steampunk beschreiben. Der Roman wird aber auch dem New Weird zugerechnet, einer Strömung innerhalb der Phantastik, die sich definitorisch schwer fassen lässt und im Wesentlichen einen Mix aus SF, dunkler Fantasy und Horror bezeichnet. Tatsache ist allerdings auch, dass Miéville mit „Perdido Street Station“ weit näher an der abenteuerlichen und exotisch aufgeladenen Science Fiction eines Jack Vance (im Shop) operiert als mit seinen späteren Büchern „This Census-Taker“ (2016; dt. „Dieser Volkszähler“) und „The Last Days of New-Paris“ (2016; dt. „Die letzten Tage von Neu-Paris“). Allerdings hat er noch zwei weitere Romane über Bas-Lag geschrieben: „The Scar“ (2002; dt. zweigeteilt als „Die Narbe“ und „Leviathan“) sowie „Iron Council“ (2004; dt. „Der eiserne Rat“), die gern wiederveröffentlicht werden könnten. Bis es soweit ist, lässt sich „Perdido Street Station“ in der hervorragenden Übersetzung von Eva Bauche-Eppers neu entdecken.
China Miéville: Perdido Street Station • Roman • Aus dem Englischen von Eva Bauche-Eppers • Heyne • 848 S. • € 16,99 • E-Book • € 13,99 • im Shop
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