1. Februar 2019 1 Likes

Die Dystopie der Stunde?

Brexit, Klimawandel, Flüchtlingskrise: John Lanchesters Roman „Die Mauer“

Lesezeit: 3 min.

John Lanchester kennt sich aus mit dem, was gerne als „Buch der Stunde“ bezeichnet wird. Als sich die Welt vor einigen Jahren im festen Würgegriff der Finanzkrise befand und selbige die Schlagzeilen beherrschte, schrieb Lanchester Romane und Sachbücher über Schulden, Kapital, Gentrifizierung und die Sprache des Geldes. In seiner Anfang 2019 erschienenen Dystopie „Die Mauer“ verarbeitet Lanchester nun den Klimawandel, das Brexit-Chaos, die Flüchtlingskrise, den Rechtsdruck in Politik und Gesellschaft sowie das weltweit zu beobachtende Streben nach Abschottung und – nun ja – Mauern.

Zu Beginn von „Die Mauer“ haben all die einschüchternd großen und globalen Probleme unserer Gegenwart längst zum Wandel geführt. Großbritannien hat ein ganzes Stück Küste an den gestiegenen Meeresspiegel abgeben müssen, kämpft mit kalten Temperaturen und ist bereits von einer zehntausend Kilometer langen Mauer aus Beton umgeben. Im Landesinneren kümmern sich Roboter und Drohnen um die Arbeit auf den Feldern, Fortpflanzler sollen für das dringend nötige Bevölkerungswachstum sorgen, die Elite genießt ihre Privilegien, Ausländer werden höchstens als Dienstlinge geduldet, die Älteren erinnern sich wehmütig an Strände und die Jungen müssen Dienst auf der Mauer leisten und verhindern, dass die Anderen vom Meer aus ins Land kommen. Zwei Jahre dauert die Wehrpflicht auf der Mauer, zwischen Männern und Frauen wird dabei nicht unterschieden. Die Geschichte von Ich-Erzähler Joseph „Yeti“ Kavanagh fängt mit seiner Ankunft auf der Mauer an. Er berichtet von Tagen und Nächten voller Beton, Kälte, Meer, Regeln und Sorgen. Von Hunger und Monotonie. Von Kameradschaft und Liebe. Und von der Angst davor, plötzlich wirklich gegen die Anderen kämpfen zu müssen – oder, schlimmer noch, den Abschnitt der Mauer bei einem Angriff nicht halten zu können und zur Strafe selbst aufs Meer verbannt zu werden …


John Lanchester. Foto © Marijan Murat

John Lanchester wurde 1962 in Hamburg geboren, wuchs in Hongkong auf und lebt seit Langem in England. In London arbeitet er als Schriftsteller und Journalist, dessen Beiträge u. a. im „Guardian“, dem „Esquire“, dem „Observer“ und dem „New Yorker“ abgedruckt werden. Sein absolut mainstreamtauglicher, brandaktueller Science-Fiction-Roman, den Dorothee Merkel ins Deutsche übertrug, ist trotz allem eine mustergültige Dystopie irgendwo zwischen Orwell und Atwood. Lanchester wählt einerseits die nüchterne Distanz zu seinem Setting und dem Alltag in seiner nahen Zukunft, andererseits ist er dicht an den Gedanken und Gefühlen seines Protagonisten und Erzählers dran. Diesen Ansatz kennt man von den Klassikern des dystopischen Genres, und er funktioniert auch für „Die Mauer“. So erschafft Lanchester aus den großen, vertrackten Themen unserer Zeit, die er mithilfe der Zukunftsliteratur potenziert, eine beeindruckende Kulisse und Stimmung; die beklemmende Atmosphäre auf der Mauer, die er erzeugt, beeindruckt sowieso.

Allerdings überlässt Lanchester es ganz seinem Leser, sich eine Meinung über die Fremdenfeindlichkeit und das Leben im Großbritannien von Morgen zu bilden: Schlüsse zu ziehen, zu überlegen, was falsch und was richtig ist, oder auf welche Strömung unserer Zeit dieses oder jenes Element anspielt. Das, was die Menschen in „Die Mauer“ in einem Klima der Angst vor Migranten und als Teil einer strikten militärischen Befehlskette sagen und tun, muss beim Lesen von jedem selbstständig interpretiert und abgewogen werden. Der englische Intellektuelle fällt kein Urteil, kaut nichts vor, gibt nicht mal mittels Ironie oder Zynismus einen Hinweis – und schon gar keine direkten Antworten, die es ohnehin nicht gibt. Subtil. Nur geht das schließlich so weit, dass Lanchester sich am Ende ganz auf ein endzeitliches Abenteuer einlässt, hinter dem die Mauer und alles andere zurückbleiben. Dieses handelsübliche, etwas banale Survival-Finale ergibt ein überraschendes Ausplätschern angesichts des starken Konstrukts, das er in den ersten zwei Dritteln seines Buches errichtet.

Dennoch gehört „Die Mauer“ definitiv zu den interessantesten und lesenswertesten Dystopien der letzten Jahre. Nicht zuletzt, weil John Lanchesters Roman wieder einmal deutlich macht, wie nah gute Science-Fiction der Wirklichkeit kommen kann und muss, und dass die Mauer zwischen dystopischer Fiktion und deprimierender Realität gerade erschreckend niedrig ist.

John Lanchestr: Die Mauer • Klett-Cotta, Stuttgart 2019 • 348 Seiten • Hardcover: 24,00 Euro

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