5. Februar 2019

Die Welt von morgen?

An der Berliner Volksbühne denken Susanne Kennedy und Markus Selg über die „Coming Society“ nach

Lesezeit: 3 min.

Theater als religiöse Erfahrung? Diesen Eindruck hat man bei Susanne Kennedys neuem Stück „Coming Society“, das momentan an der Volksbühne Berlin zu sehen ist. Wobei „Stück“ nicht die ganz richtige Beschreibung für einen Abend ist, der mit Bezügen zu Religion, Mythen, Cyborgs und Artifizieller Intelligenz spielt. Zwar sitzt man zu Beginn noch im Saal, sieht ein karges Bühnenbild, das vor allem aus einem Tor besteht. Doch bald hebt sich der Vorhang, öffnet sich der Raum hinter dem Tor, werden die Zuschauer eingeladen, durch das Tor in eine Welt zu treten, die Kennedy in Zusammenarbeit mit dem Künstler Markus Selg entworfen hat.

Wikipedia beschreibt Selgs Arbeit so: „Seit Mitte der 1990er Jahre erforscht Selg die Dynamik zwischen archaischen Mythen und Computertechnik in Formen digitaler Malerei, Skulptur, bewegtem Bild, Theater und umfassenden, immersiven Installationen“, was ziemlich genau den Rahmen der Welt beschreibt, der sich nun öffnet: Eine Pyramide, Wandgemälde von Riten, die an die Mayas oder Inkas erinnern, in der Mitte der sich fortwährend sanft drehenden Bühne eine kristallförmige Skulptur. Dazu Videoaufnahmen von digitalen Wäldern, die eine künstliche Welt andeuten, in der sich nicht nur die Zuschauer frei bewegen, sondern auch die Darsteller, die an Cyborgs erinnern.

Die sprechen wie bei Kennedys Stücken üblich ein komplexes, verwirrendes Zitatengemisch, das um Fragen der Sinnsuche, des Bewusstseins kreist und sich von Friedrichs Nietzsches Philosophie bis zu Donna Haraways „Cyborg Manifesto“ zitiert. Vom Leben als Spiel ist viel die Rede, vom Leben als eine Art virtuelle Realität, in die jeder Mensch geworfen wird, quasi ein individuelles Spiel spielt, in dem es unendliche Möglichkeiten gibt, dessen Ende offen ist, aber unweigerlich kommt. Und das – wie zu allen Zeiten – die Frage nach dem oder einem Sinn aufwirft.

Meist war es die ein oder andere Form von Religion, die Anbetung einer Gestalt, die Menschen einen Sinn gab, doch wo ist so eine Person in der technologisierten Moderne zu finden? Vielleicht in Cyborgs, artifiziellen Wesen, so wie sie sich durch die Welt dieser „Coming Society“ bewegen? Wie sehr Menschen nach Leitfiguren verlangen zeigt auch die erzwungene Interaktion des Publikums mit den Schauspielern, denen bei ihren Bewegungen durch die Bühne gefolgt wird. Vor allem natürlich aus dem Drang zu sehen, was da passiert, doch da oft kaum zu verstehen ist was da gerade passiert, sich die Zitat-Versatzstück nur schwer zu einem klaren Sinn formen – auch wenn es ironischerweise immer wieder heißt „don’t give up, this will all make sense“ – muten die Bewegungen der Zuschauer wie eine bewusste Reflexion der Ausgangsfrage an: Leitfiguren folgt das Publikum unbewusst, unterschiedlichen Angeboten, die einen Sinn versprechen, der sich einstellen mag oder auch nicht.

Und am Ende, wenn manche der Cyborg-Darsteller einander die Füße gesalbt haben und jesusartig durch den Raum getragen wurden, verlässt man diesen unwirklichen Raum wieder durch das Tor, diesmal in das gleißende Licht, dass die Volksbühne wie das Ende eines langen Tunnels wirken lässt.

Fotos: Julian Roeder

„Coming Society“ von Susanne Kennedy und Markus Selg • Volksbühne Berlin • nächste Aufführungen 8.-10. Februar

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