19. November 2022 1 Likes

„Penelope und die zwölf Mägde“ von Margaret Atwood

Die Autorin von „Der Report der Magd“ hinterfragt die „Odyssee“ – in neuer Übersetzung

Lesezeit: 3 min.

Auch in diesem Jahr hat die Schwedische Akademie lieber wieder darauf verzichtet, Margaret Atwood (im Shop) noch zu Lebzeiten den Literaturnobelpreis überreichen zu können. Wahrscheinlich ist die Wahl der Ausnahmeschriftstellerin aus Kanada, die am 18. November ihren 83. Geburtstag feiert, schlicht und ergreifend zu naheliegend (und überfällig) für das Gremium, weshalb man sie einfach weiterhin ignoriert. Ein bisschen schade, ein bisschen seltsam, aber was soll’s – wenn Margaret Atwood eines nicht braucht, dann irgendeine Bestätigung aus Stockholm. Ihr Werk spricht laut genug, für sich und für sie.

Ob ihr weithin bekannter Evergreen „Der Report der Magd“ von 1985, auf dem nicht zuletzt die gleichnamige Erfolgsfernsehserie unserer Zeit basiert, überhaupt ihre vielen messerscharfen Science-Fiction-Werke zwischen Dystopie und Postapokalypse, ihre anderen Romane und Kurzgeschichten, ihre Essays oder ihre Gedichte: Margaret Atwood ist eine Meisterin, eine Wegbereiterin, eine Vordenkerin, eine Impulsgeberin – und eine unermüdliche Analytikerin verschiedener Epochen der Unterdrückung und des Empowerments. Kurzum: Eine der Besten, die wir haben.

Bereits 2005 warf sie in „The Penelopiad“ einen gewohnt erfrischenden – und stellenweise gnadenlosen – Blick auf die „Odyssee“. Beim Wunderraum Verlag gibt es das Buch, das schon einmal als „Die Penelopiade. Der Mythos von Penelope und Odysseus“ auf Deutsch erschienen ist, nun in neuer Übersetzung von Prosa und Poesie durch Marcus Ingendaay und Sabine Hübner als Penelope und die zwölf Mägde“ (im Shop).

Der neue Titel, der natürlich die Nähe zum Atwood-Klassiker sucht, ergibt dabei durchaus Sinn: Denn Margaret Atwood geht es nicht allein darum, Penelopes Charakter und Rolle in der „Odyssee“ neu zu betrachten, sondern auch die zwölf jungen Mägde, die am Ende des Epos hingerichtet werden. Während Penelope aus dem Hades heraus ihr Leben und die berühmten Ereignisse aus der Antike Revue passieren lässt, kommen die Mägde, wie im griechischen Theater, zwischen den Akten als Chor ebenfalls zu Wort. Und wer Margaret Atwood kennt, kann sich denken, wie das in beiden Fällen klingt: ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, den Finger in die Wunde bohrend, die Fakten gnadenlos auf den Tisch legend, und interessante Sichtweisen liefernd. Die Mägde nutzen die Versform, doch Penelope spricht nicht aus 2000, 3000 Jahren Entfernung zu uns. Sie wandert als Geist durch den Hades, ist sich jedoch der Moderne bewusst und wählt ihre Worte für das heutige Publikum entsprechend, das heißt: zeitgemäß, scharfzüngig und flott.


Margaret Atwood. Foto © Jim Allen

Die teils anachronistische Sprache trägt erheblich zum Genuss von „Penelope und die zwölf Mägde“ bei, das mit seinen knapp 200 Seiten irgendwo zwischen bissiger Novelle und ironischem Kurzroman liegt, aber eben nicht allein aufgrund der Knackigkeit einen erheblichen Gegenentwurf zu Homers gedichteter Chronik des Trojanischen Krieges darstellt, an dem die eingebildet-schöne Helena Schuld gewesen sein mag, oder auch nicht. Es genügt übrigens eine rudimentäre Kenntnis der Quellmaterials, um Atwoods Neuinterpretation genießen und würdigen zu können.

Inzwischen existieren allerhand Modernisierungen und Neubetrachtungen der alten Mythen, Legenden und Sagen – wieso nicht mit Margaret Atwoods Penelope-Remix der Odyssee anfangen, der sich, wie nicht anders zu erwarten, als ebenso vergnüglich wie klug und aktuell erweist? Klassisches Material, das stets verzerrte, betrachtet durch die in andere Richtung ver- und entzerrende Linse der Gegenwart, und dabei Seite für Seite durch und durch Margaret Atwood.

Margaret Atwood: Penelope und die zwölf Mägde • Roman • Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay, Sabine Hübner • Goldmann, München 2022 • 192 Seiten • Erhältlich als Hardcover, eBook, Hörbuch CD und Hörbuch Download • Preis des Hardcovers: € 22,00 • im Shop

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