21. Mai 2020 1 Likes

Staatliche Desinformation, Gewalt und Handyüberwachung

Basma Abdel Aziz beschreibt in „Das Tor“ eine arabische Dystopie, die nur knapp neben der Realität liegt

Lesezeit: 3 min.

Eigentlich ist er nur ein einfacher Handelsvertreter, aber nun steckt ihm eine Kugel im Bauch: Yahya hat wirklich ein Problem. Denn nicht mangelndes ärztliches Können oder Probleme der Gesundheitsversorgung stehen einer Heilung im Weg, sondern die Bürokratie. Yahya benötigt nämlich eine Genehmigung für den Chirurgen, die ihm nur das „Tor“ erteilen kann – jene rätselhafte behördliche Instanz, die die Kontrolle im nordafrikanischen Land übernommen hat. Und vor deren Eingang sich eine Schlange bildet, die immer länger wird.

Das Tor erschien praktisch über Nacht. Es hieß, der alte Herrscher wäre nicht länger bereit, Ungehorsam gegenüber seinen Entscheidungen hinzunehmen, und habe daher alle Macht an das Tor abgegeben. Kurz darauf verschwand er, und das Tor begann, massiv in das Leben der Menschen einzugreifen: Gesetze, Beschlüsse, absurde Steuern – das Tor wurde zur zentralen staatlichen Instanz. Es geht nichts mehr ohne das Tor und nur wenig mit ihm. Das bekommt Yahya zu spüren, denn er ist in ein „Schändliches Ereignis“ geraten, über das niemand redet, bei dem aber Waffen zum Einsatz gekommen sind. Dabei hat er sich eine Kugel eingefangen, die ihm Dr. Tarik Fahmi auch gern herausoperieren würde. Allerdings ist dieser Akt gerade unter Strafe gestellt worden, denn offiziell hat es keine Schüsse beim „Schändlichen Ereignis“ gegeben, weswegen nun auch kein Projektil existieren kann – zumindest nicht offiziell. Es liegt an Yahya, eine entsprechende Erlaubnis einzuholen. Doch die Schlange vor dem Tor ist nicht nur kilometerlang, sondern bewegt sich auch nicht von der Stelle – manch einer übernachtet direkt vor Ort, bloß um am kommenden Tag feststellen zu müssen, dass es doch nicht weitergeht. Und für Yahya wird langsam die Zeit knapp.

„Das Tor“ (im Shop) der 1976 in Kairo geborenen Schriftstellerin, Künstlerin und Psychiaterin Basma Abdel Aziz entstammt einem ungewohnten Kulturkreis, denn ihr Buch spielt in Ägypten – auch wenn dies an keiner Stelle explizit gesagt wird. Überraschenderweise lässt sich der Debütroman dennoch sehr gut in der europäischen Moderne verorten; gerade die Literatur von Franz Kafka ist ein offensichtlicher Bezugspunkt. Aber die Handlung weist auch im Hinblick auf das absurde Stehen in einer endlosen Schlange Parallelen zu der für Nebula und Hugo Award nominierten Science-Fiction-Erzählung „In the Queue“ (1970; dt. „In der Schlange“) von Keith Laumer auf. Allerdings macht Aziz vor dem Hintergrund des arabischen Raums etwas völlig anderes daraus.

Tatsächlich ist Das Tor ein zeitloser politischer Science-Fiction-Roman, was auch an seiner parabelhaften, an Jorge Luis Borges erinnernden Grundidee liegt. Zwar gibt Aziz dem Stadtleben großen Raum und schildert wirklichkeitsnah die Lebensumstände verschiedener Charaktere, doch früher oder später werden alle mit den Kontrollmaßnahmen des Tors – wie etwa telefonisches Abhören sowie gezielte Desinformation – konfrontiert. So entsteht das Bild einer repressiven Gesellschaft, das nur knapp neben der Realität liegt; dies gilt heute vielleicht noch mehr als zur Veröffentlichung des Buchs im Jahr 2013. Zum anderen beschäftigt sich der Roman mit der Rolle einer nicht näher bezeichneten Religion, die eine zentrale Stelle im gesellschaftlichen Leben beansprucht. Beispielsweise lassen sich Armut und Not aus dieser Perspektive nur „durch vermehrtes Beten“ bekämpfen, was die Gläubigen passiv werden lässt und der Indoktrination neue Spielräume eröffnet. Auch hier hat die Autorin zweifelsfrei die Realität vor Augen.

Doch Das Tor erzählt nicht nur die Geschichte von Yahya. Das Warten in der Schlange führt viele Figuren zusammen, die ganz eigene Taktiken entwickeln, um mit der Situation fertig zu werden. Die Lehrerin Ines kann eines Tages dem Druck nicht mehr standhalten und flüchtet sich in die Ehe mit einem reaktionären Prediger, die Putzfrau Umm hingegen entwickelt kaufmännisches Geschick. Das sind ungewöhnliche Ansätze für einen Science-Fiction-Roman. Aber gerade die Abweichung von den Genreregeln macht den Reiz des spannenden und bisweilen herrlich absurden Buchs aus.

Basma Abdel Aziz: Das Tor • Roman • Aus dem Arabischen von Larissa Bender • Heyne, München 2020 • 280 S. • € 14,99 • E-Book 11,99 • im Shop

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