29. August 2016 2 Likes

Tiptree-Telepathie in Romanlänge

„Die Mauern der Welt hoch“ von James Tiptree Jr. als Neuausgabe

Lesezeit: 3 min.

Fast zehn Jahre lang gaukelte die Amerikanerin Alice Sheldon (1915–1987) der Science-Fiction-Gemeinde erfolgreich vor, ein Mann zu sein, und täuschte mit ihrem bis heute berühmten Pseudonym James Tiptree Jr. selbst den großen Harlan Ellison (im Shop) – und bewies durch ihren maskulinen Nom de Plume, dass das Geschlecht eines Autors rein gar nichts mit der Qualität seines literarischen SF-Outputs zu tun hat. Schließlich schrieb Sheldon, die in Psychologie promovierte, als Kunstkritikerin tätig war, eine Hühnerfarm bewirtschaftete und als Analystin für die CIA arbeitete, zahlreiche sensationell gute Science-Fiction-Kurzgeschichten, die noch heute zum Besten und Lesenswertesten gehören, was das Genre auffahren kann. Umso erfreulicher ist es, dass der Wiener Septime Verlag zwischen 2011 und 2015 sämtliche Erzählungen von Tiptree Jr. in einer siebenbändigen Werkausgabe im Hardcover und im E-Book zusammenfasse. Dazu kam noch die Tiptree-Biografie der Journalistin Julie Philips – und jetzt folgt der erste von zwei Romanen, die Sheldon geschrieben hat: „Die Mauern der Welt hoch“, der im Original 1978 als „Up the Walls of the World“ und auf Deutsch erstmals 1980 unter dem Titel „Die Feuerschneise“ bei Heyne herauskam.

Auf Englisch erschien das Buch also ein Jahr, nachdem „Mister Tiptrees“ wahre Identität öffentlich geworden war, und verbindet auf seinen knapp 500 Seiten drei Parteien: Eine Navy-Versuchsgruppe menschlicher Telepathen, deren betreuender Arzt das ganze Forschungsprojekt eigentlich nicht ernst nehmen möchte und lieber der schönen Computertechnikerin den Hof macht. Die exotischen, mit ihren Propellerflügeln umherdüsenden Bewohner des Planeten Tyree, in deren Kultur die Aura und das Bewusstsein dehnbare, auf andere übertragbare Begriffe sind. Und einen großen, aus der Reihe tanzenden kosmischen Weltenzerstörer, der ausschließlich in GROSSBUCHSTABEN in Szene tritt und lediglich auf den ersten Blick das typische, absolute Böse verkörpert. Das sind die Zutaten eines ungewöhnlichen Erstkontakt-Romans, der noch vor der Halbzeit zu einer wahren Ereignis-Explosion führt, sobald die drei Fraktionen richtig miteinander interagieren. Die besten Kapitel zeigen dabei alle Stärken von Tiptree Jr. – ihren Stil, ihre Überzeugungskraft, ihre authentischen Figuren und ihr Talent für punktgenaue Spotlights auf die menschliche Natur und Gesellschaft.

Obwohl „Die Mauern der Welt hoch“ in der Summe ein ordentlicher SF-Roman ist und die Zeit relativ gut überstanden hat, unterstreicht er letztlich trotzdem vor allem noch mal, dass Alice Sheldon/James Tiptree Jr. zurecht eine viel gerühmte Kurzgeschichten-Autorin war – und es gibt schließlich einige, die dasselbe über z. B. Philip K. Dick (im Shop) sagen würden. Dennoch, die vorbildliche, unverzichtbare und im Fall der gebundenen Exemplare richtig schön aufgemachte Tiptree Jr.-Werkausgabe im Septime Verlag wäre ohne die beiden Romane der Namensgeberin des seit 1991 verliehenen James Tiptree Jr. Awards irgendwie unvollständig, und so ist diese Neuübersetzung durch Bella Wohl definitiv sinnig.

Sheldons anderer Roman, „Helligkeit fällt vom Himmel“, soll innerhalb der nächsten zwei Jahre folgen. In der Zwischenzeit ist für diesen September bereits der Band „Wie man die Unendlichkeit in den Griff bekommt“ angekündigt, der nicht lange nach dem 100. Geburtstag der Autorin Briefe, Gedichte und Essays enthält. Außerdem kann man ja jederzeit einen der Storybände aus dem Regal ziehen und noch mal seine liebsten Tiptree Jr.-Kurzgeschichten lesen. Darauf macht der Roman nämlich richtig Lust.

James Tiptree Jr.: Die Mauern der Welt hoch • Septime, Wien 2016 • 499 Seiten • Hardcover: 24,90 Euro

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