4. August 2016 3 Likes

Vergangenheit ist Zukunft

Anja Kümmels Roman „V oder die Vierte Wand“ löst kunstvoll die Grenzen zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen Erzählen und Erzähltwerden auf

Lesezeit: 3 min.

Im Jahr 1922 fand in Paris eine Debatte zwischen den zwei erklärtermaßen größten Denkern ihrer Zeit statt: Albert Einstein und Henri Bergson. Der Anlass: Bergson kritisierte Einsteins Relativitätstheorie als keineswegs vollständige Erklärung des Phänomens Zeit. Die Debatte ist heute fast vergessen, aber die Frage nach dem Wesen der Zeit ist geblieben. Anja Kümmel, ihres Zeichens Schriftstellerin und Autorin von vielbeachteten Science-Fiction-Romanen wie dem 2012 erschienenen „Träume digitaler Schläfer“, hat den Staffelstab offenbar aufgenommen und sich in einem gewaltigen Sprachereignis von einem Roman nun dem Rätsel um das Wesen von Vergangenheit, Zukunft und Gleichzeitigkeit gewidmet.

Anja Kümmel: V oder die Vierte Wand„V oder die Vierte Wand“ heißt das Werk. Es ist kürzlich in dem rührigen Independent-Verlag Hablizel erschienen, und nun ist der Roman sogar auf der diesjährigen Hotlist der unabhängigen Verlage gelandet. Aufmerksame Leser konnten bereits in der letzten Ausgabe des Literaturmagazins Krachkultur einen Auszug daraus lesen. Also, worum geht’s in „V oder die Vierte Wand“?

Rein äußerlich geht es um zwei Protagonisten, die aus völlig unterschiedlichen Richtungen und aus miteinander unvereinbaren Zeitebenen in einem Londoner Club namens „V“ zusammentreffen. Da ist zum einen Mesca, ein Mexikaner aus dem Jahr 1980, den es auf seiner Reise von Los Angeles aus nach London in die Zukunft verschlägt: das London des zwanzigsten Jahrhunderts existiert nur noch in Häuserruinen und veralteten Stadtviertelnamen. Jetzt regiert dort eine technokratische, alles überwachende Einparteienregierung, die mit ihren Sensordrohnen und der alles durchdringenden Virtual-Reality-Technologie die Bevölkerung kontrolliert.

An den Stadträndern dagegen regieren die Gangs – und mittendrin trifft der völlig desorientierte, als unverkabelter Mensch geradezu zurückgebliebene Mesca auf eine Szene aus Drogen- und Digitaljunkies und Künstlern, die miteinander in einem multilingualen Slangwirrwar kommunizieren und deren Kunst von Sabotage oft nicht zu unterscheiden ist.

Zum anderen ist da Fenna. Die Isländerin erhält in einer nicht näher datierten Zukunft einen Auftrag als Killerin und reist nach London – nur um in den wilden Achtzigern zu landen. Doch sie bleibt ihrem Opfer auf die Spur und gerät nach und nach in den Sog des mysteriösen Clubs „V“, in dem sich die vielen Zeit- und Realitätsebenen der Geschichte zu verknoten scheinen.

Der Roman ist ganz bestimmt keine leichte Kost. Martin Brinkmann nennt ihn eine „psychedelische Dystopie“ und lobt den „ureigenen Sound der Sprache“, während Dietmar Dath (im Shop) Anja Kümmels Schreiben eher als „erzählende Möglichkeitsforschung“ tituliert. Das alles sagt nichts anderes, als dass man streckenweise im Gewirr der Perspektiven, Zeitebenen, Wörter und Computercode-Schnipsel zu ertrinken meint – und damit ganz bei den Figuren ist.

Thomas Pynchon beschreibt einmal in seinem Meisterwerk „Die Versteigerung von No. 49“ eine Liebesszene, in der eine Runde Strippoker, ein skurriler Fernsehfilm und ein Spontankonzert in einem kalifornischen Motel simultan in einem gigantischen Strom-, Licht- und Sinnausfall kulminieren. Anja Kümmel beweist mit „V oder die Vierte Wand“, dass man in solch einem semiotischen Kurzschlussmoment durchaus eine Geschichte ansiedeln kann. Die verweigert sich dem gängigen Zugriff der Unterhaltungsliteratur zwar, aber mit ebendiesem Mittel des Pynchon’schen „epileptischen Wortes“ liefert sie eine mehr als adäquate Be-Schreibung unserer aus Vergangenheiten und Zukünften zusammengepuzzelten Jetzt-Welt. Dieser Roman ist eine literarische Science-Fiction-Erfahrung im besten Sinne.
 

Anja Kümmel: V oder die Vierte Wand • Roman • 377 Seiten • Hablizel Verlag • erschienen im April 2016 • € 18,90

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.