30. Mai 2018 2 Likes

Von Albatrossen und Eintagsfliegen

Romantik trifft auf Science-Fiction in Matt Haigs „Wie man die Zeit anhält“

Lesezeit: 4 min.

Er ist einer der wohl populärsten UK-Exporte, der englische Schriftsteller Matt Haig – und ein literarischer Tausendsassa noch dazu. Seine phantastischen Romane, grandiosen Kinder- und Jugendbücher und gänzlich irdischen Sachbücher sind längst Bestseller. Mit „Die Radleys“ (Kiepenheuer & Witsch, 2011) wurde er auch hierzulande einem breiteren Publikum bekannt. In die Herzen der Science Fiction-Fans schrieb sich der studierte Philologe und Historiker mit „Ich und die Menschen“ (dtv, 2014). Vier Jahre hat es gedauert bis sich Haig wieder einem erwachsenen Publikum zugewandt hat. Ob sich das Warten auf „Wie man die Zeit anhält“ gelohnt hat?

Held und Ich-Erzähler seines neuen Romans ist Tom Hazard. Tom ist kein gewöhnlicher Mann. Obwohl er aussieht wie Anfang 40, ist er in Wahrheit bereits 439 Jahre alt. Seine Langlebigkeit ist einer seltenen genetischen Disposition zu verdanken, der Anagerie. Sie ist das Gegenteil der real existierenden Progerie: statt rasend schnell zu altern, altert er um ein vielfaches langsamer als der „Otto-Normal-Erdenbewohner“. Tom ist also alles andere als unsterblich, aber mit einem besonders widerstandsfähigen Immunsystem gesegnet. Und er ist nicht allein. Menschen wie er sind auf dem gesamten Globus zu finden. Viele von ihnen sind in der Albatros-Gesellschaft organisiert. Damals, als die Wissenschaft noch davon überzeugt war, dass Albatrosse zu den langlebigsten Geschöpfen auf der Welt zählten, erschien der Name durchaus passend. Doch der Preis für die Mitgliedschaft in diesem illustren Verein, der den „Albatrossen“ alle acht Jahre einen Identitätswechsel ermöglicht, ist hoch. Beziehungen zu „normalen“ Menschen sind tabu, zumal sie abwertend als „Eintagsfliegen“ bezeichnet werden. Zu groß sei die Gefahr, die von ihnen und ihrer Neugierde ausgingen. Denn die Existenz der „Albas“ muss geheim gehalten werden.

Welche Maßnahmen dafür notwendig sind, wird in einer der ersten Szenen des Romans geschildert. Tom ist in Sri Lanka unterwegs, um eine bis dato unentdeckte „Alba“ zum Beitritt in die Organisation zu überreden. Tut sie dies nicht, ist es seine Aufgabe sie zu töten. Tom wird dieses Mal nicht zum Mörder, aber er beginnt seine gesamte Situation zu hinterfragen. Will er solche Aufträge bis zu seinem Lebensende erledigen? Möchte er weiterhin Identitäten wechseln? Orte wechseln? Menschen abweisen? Oder möchte er sein Leben wieder selbst in die Hand nehmen und auf eigene Faust nach seiner Tochter Marion suchen, die genauso ist wie er? Zurück von der Insel bittet er Hendrich, den obersten Hüter aller „Albas“, um einen letzten Identitätswechsel. Er möchte zurück nach London und Geschichtslehrer werden. Als er an seiner neuen Schule die junge Französischlehrerin Camille kennen lernt, bekommt sein Leben wieder einen Sinn. Doch die Beziehung steht – wie könnte es anders sein? – unter keinem guten Stern…

Von der Gegenwart wechselt Haig immer wieder in die Vergangenheit. Ein Mann, der seit über 400 Jahren auf der Erde wandelt, hat einiges zu erzählen. Da sind sie dann fast eins: der studierte Historiker Haig und der ambitionierte Geschichtslehrer Tom, der an seinen desinteressierten Schülerinnen und Schülern fast zu verzweifeln droht. Haig lässt Tom mal lakonisch, mal sehr ernst auf die vergangenen Jahrhunderte zurückblicken: auf seine Kindheit in Frankreich, die Hexenverfolgung, seine Zeit bei den „Lord Chamberlain’s Men“ (und den Treffen mit William Shakespeare), auf die Anfänge der Kolonialzeit und die Freundschaft zu Omai, dessen Hütte er in Tahiti anzünden sollte. Reale Ereignisse und Personen wie Sir Jonathan Hutchinson, jenem Arzt, der die Progerie entdeckte, vermischen sich mit Toms fiktiven Leben. Geschichte wird somit greifbar und lebendig. Dennoch stößt Tom immer wieder an seine Grenzen und klammert sich an den Wunsch Marion wieder zu sehen. Da ist dann auch der andere Haig zu spüren: der nachdenkliche, der über das Leben sinniert und Gründe sucht, am Leben zu bleiben. Eine gewisse Schwermut ist auch „Wie man die Zeit anhält“ anzumerken – alles andere wäre bei der Prämisse aber auch ein Wunder. Neben Shakespeare gibt es noch ein weiteres wiederkehrendes Element in seinen Romanen, die sich an Erwachsene richten: Hunde. Tom adoptiert einen Akita-Inu, den er Abraham tauft und der ihm ein Anker und kurzlebiger Gefährte in seinem nicht enden wollenden „Alba“-Leben ist.

Was ist „Wie man die Zeit anhält“ also? Ein Streifzug durch die Geschichte? Eine Romanze? Ein philosophischer Exkurs über die Endlichkeit des Seins? Oder einfach ‚nur‘ Science-Fiction? Wenn es nach Tom geht, ist die Sache klar: „Ich bin Science-Fiction“, teilt er an einer Stelle dem Leser mit. Haigs neuester Roman ist alles auf einmal und eine absolut lesenswerte Mischung, auch wenn er nicht ganz an die Genialität und den Witz von „Ich und die Menschen“ heran kommt. Dafür können sich seine Fans auf die Verfilmung freuen: niemand anderes als „Sherlock“-Star Benedict Cumberbatch wird Tom auf der großen Leinwand verkörpern. Wenn das mal kein guter Grund ist, am Leben zu bleiben!

Matt Haig: Wie man die Zeit anhält • Aus dem Englischen von Sophie Zeitz • dtv, München, 2018 • 384 Seiten • 20,00 €

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