28. Dezember 2018 2 Likes

Zeitreisen sind Hexenwerk

Neal Stephensons und Nicole Gallands Roman „Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.“

Lesezeit: 3 min.

In ihrem stattlichen Roman-Gemeinschaftswerk „Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.“ beschreiben Neal Stephenson (im Shop) – Genre-Schwergewicht, Cyberpunk-Pionier und Meister komplexer historischer Stoffe – sowie Nicole Galland – Expertin für Shakespeare und historische Romane – die Entwicklung einer streng geheimen amerikanischen Regierungsbehörde. Diese will unter Einsatz von so gegensätzlichen Kräften wie Quantenphysik und Hexerei die ausgelöschte Magie in der modernen Welt wiederherstellen oder zumindest so weit wie möglich nutzbar machen. Das undurchsichtige globale Wettrüsten in dieser Richtung hat nämlich längst begonnen …

Der eifrige Geheimdienstler Tristan Lyons und die fähige Linguistin Mel Stokes sind verantwortlich für den Aufstieg des DODO (wofür das genau steht, wird im Buch erst nach einem Running Gag verraten). Anhand alter Dokumente ergründen sie zunächst, was überhaupt mit der Magie passierte und wieso sie verschwand. Nicht weniger wichtig ist der betagte Wissenschaftler Frank Oda, der schon vor Jahren mittels Schrödingers berühmter Katze zum Thema alternative Zeitlinien forschte. Doch wer mit Quanten, Hexen, Magie, Zeitreisen und Zeitsträngen hantiert, der muss vielen Problemen und Gefahren ins Auge blicken. Die Vergangenheit bzw. über diesen Weg die Gegenwart zu verändern, stellt selbst mithilfe modernster Technologie und mächtiger Hexenmagie ein schwieriges und langwieriges Unterfangen dar. Erst recht, wenn aus einer kleinen, eingeschworenen Gruppe eine riesige, von Kompetenzgerangel und sogar Intrigen durchzogene Behörde wird, die in Hierarchien, Fachbegriffen, Akronymen und Verhaltensregeln erstickt.


Neal Stephenson. Foto © Peter von Felbert

Sobald Mel in die Angelegenheiten des DODO involviert wird, ist man als Leser am Haken –also praktisch von der ersten Seite an. Man will wissen, wohin das alles führt und was sich hinter dieser oder jenen „Verschlusssache“ verbirgt, und hat viel Spaß mit den Protagonisten und ihrem Weg zu Erkenntnissen und letztlich den ersten Zeitreisen. Zwar verbrennen Stephenson und Galland für relativ wenig Plot im ersten Drittel mehrere Hundert Seiten, doch sind diese jederzeit höchst unterhaltsam und sympathisch geraten. Darüber hinaus erfreuen einen die ständigen Spielereien mit Layout und Typografie: Briefe, Tagebucheinträge und Memos tragen viel zur Story und erheblich zur Abwechslung bei – zudem kommen neben Ich-Erzählerin Mel so noch andere Perspektiven und Stimmen zum Einsatz. Das recht anspruchsvolle Layout der deutschen Hardcover-Ausgabe ist dabei so gelungen wie die Übersetzung von Juliane Gräbener-Müller, die ebenfalls alle Hände voll zu tun hatte mit den Witzchen und Mätzchen der Autoren (u. a. galt es, allerhand lustige Akronyme und ein Wikinger-Epos umzudichten).


Nicole Galland. Foto © Eli Dagostino

Da DODO im Mittelteil der Geschichte zu einem kolossalen Behördenapparat mutiert, nehmen die Memos, Gesprächsprotokolle und Intranet-Artikel noch weiter zu und tragen vorübergehend allein die Handlung. Das nutzen Stephenson und Galland, die gut miteinander harmonieren, um die Welt der Geheimdienste mitsamt ihrer Strukturen und Bezeichnungen durch den Kakao zu ziehen. Hier büßt der Roman jedoch für geraume Zeit an Konzentration und Fokus ein, und im Vergleich zum Anfang mag man fast von einem Stilbruch sprechen. Man könnte das Ganze natürlich auch als Wachstumsschmerzen von DODO interpretieren, an denen es für alle Beteiligten, inklusive des Lesers, kein Vorbeikommen gibt. Im letzten Drittel sind die Dimension, das Ensemble und der Fokus dann so weit vergrößert, dass es wieder spannend und packend weitergeht. Für das Finale erweist es sich allerdings als hilfreich, wenn man dank ausreichend „Doctor Who“ über ein dehnbares Logik-Organ verfügt, aber das ist bei Zeitreise-Geschichten ja generell nicht verkehrt.

„Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.“ kann nicht auf ganzer Linie überzeugen – trotzdem handelt es sich bei diesem dicken Roman um einen verhext guten, extravaganten Zeitreise-Schmöker, der Magie und Hard-SF gekonnt und intelligent miteinander verbindet.

Neal Stephenson & Nicole Galland: Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O • Goldmann, München 2018 • 859 Seiten • Hardcover: 30 Euro

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