Zum 100. Geburtstag: Die Stanisław-Lem-Biografie von Alfred Gall
Mehr als „Solaris“, mehr als Science-Fiction
In den 1970er- und 1980er-Jahren dürfte es in Deutschland keinen anderen Autor gegeben haben, der von der Öffentlichkeit so sehr als das Aushängeschild literarischer Science-Fiction betrachtet wurde wie Stanisław Lem. Aufklärerisch, intellektuell und ungeheuer vielseitig, schien er wie kein zweiter den Gegenpol zu den vielzitierten Niederungen jenes Genres zu verkörpern, von dem er sich immer distanziert hat: „Ich kenne, gestehe ich, keine Literaturgattung, die mir so zuwider ist.“ Millionenfach verkauft haben sich seine Bücher trotzdem, und der zweifach verfilmte Roman Solaris gilt seit langem als Klassiker der SF – was die Frage aufwirft, wie das alles in einer Person zusammengeht. Nun hat Alfred Gall zum 100. Geburtstag eine kluge Biografie zum Phänomen Lem vorgelegt.
„Gewissen extremen Versionen zufolge soll ‚Lem‘ sogar ein Mensch sein“ – mit diesem selbstironischen Zitat beginnt Gall sein Buch, das sowohl den Philosophen, den Essayisten als auch den Schriftsteller unter einen Hut bekommen möchte. Tatsächlich wäre der Autor gar nicht anders zu erfassen. Lems Arbeit ist „untrennbar mit Wissenschaft und Technik“ verbunden; im Mittelpunkt seiner literarischen Szenarien stehen die Widersprüche einer rational geprägten Zivilisation, bei der sich Gesellschaft und Technologie wechselseitig durchdringen und nicht isoliert voneinander zu betrachten sind. Dieser Zusammenhang erweist sich als wesentlich für Lems Gesamtwerk, weswegen es auch nicht verkehrt ist, seine entsprechenden Texte der „Wissenschaftlichen Phantastik“ zuzurechnen. Nur eben: Lem verstand sich keineswegs ausschließlich als Science-Fiction-Autor, was seine Abneigung gegenüber dem Genre erklären mag.
Stanisław Lem kommt am 13. September 1921 in Lwiw (Lemberg), heute in der Ukraine, als Sohn einer polnisch-jüdischen Arztfamilie auf die Welt und verbringt eine behütete, „aber auch isolierte Kindheit“, in der er bereits sein Interesse an Maschinen und am Erdenken fiktiver Gesellschaften entwickelt. Während des Weltkriegs gerät dieses Leben in Unordnung: Lemberg wird erst von der Roten Armee und dann von der Wehrmacht besetzt; viele Verwandte Lems fallen den Deutschen zum Opfer. Die Katastrophe von Krieg und Totalitarismus wird Lems Werk nachhaltig prägen. Er studiert mit Unterbrechungen Medizin, legt aber 1949 – nunmehr in Krakau – die letzten Prüfungen nicht ab, um einem denkbaren Einsatz beim Militär zu entgehen. Stattdessen wird er Mitarbeiter bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Zudem schreibt er Literatur; zunächst den Roman Der Mensch vom Mars, der in Fortsetzungsform erscheint, und dann Das Hospital der Verklärung, eine Auseinandersetzung mit dem NS-Euthanasie-Programm, die – nach langen Konflikten mit der Zensur – erst 1955 veröffentlicht werden kann. Zu diesem Zeitpunkt liegt mit Die Astronauten (1951) bereits Lems erstes publiziertes Buch vor, das ihn aus dem Stand zu einem Pionier der polnischen Science-Fiction macht und ihm darüber hinaus den internationalen Durchbruch beschert. Der Roman über eine Zivilisation auf der Venus, die eine Invasion der Erde plant, sich aber zuvor selbst vernichtet, spielt auf die Konfliktsituation im Kalten Krieg an und transportiert zudem die „bittere Erkenntnis“, dass „hohes technologisches Niveau noch nicht gesellschaftliches Wohlergehen und zivilisatorischen Fortschritt garantiert“.
In der Folgezeit wird Lem als freier Schriftsteller Buch um Buch publizieren – keineswegs ausschließlich SF, sondern auch Überlegungen zur Kybernetik (Dialoge, 1957), die umfängliche philosophische Abhandlung Summa technologiae (1964) und den (Anti-)Kriminalroman Der Schnupfen (1976). Von seinen zahlreichen SF-Texten sollen stellvertretend zwei Beispiele herausgegriffen werden: In Eden (1959) steht eine rätselhafte außerirdische Rasse im Mittelpunkt, die aus menschlicher Perspektive kaum erfasst und daher auch nicht beurteilt werden kann. Das Motiv des scheiternden Kontakts ist ebenfalls in Solaris (1961) zentral, einem Roman, in dem ein planetenumspannendes Wesen vergeblich versucht, mit beobachtenden Wissenschaftlern mittels lebensechter Kopien in Kontakt zu treten. Das Buch wurde sowohl von Andrej Tarkowski (1972) als auch von Steven Soderbergh (2002) verfilmt – kaum ein Werk hat Lems Ruf als Science-Fiction-Autor von Weltrang so befördert wie dieses. Erwähnt werden sollen noch die als philosophische Parabeln konzipierten Sterntagebücher (1957), die die Reiseberichte des Raumfahrers Ijon Tichy sammeln und mit ihren Neologismen auch sprachlich eine herausragende Arbeit darstellen. Tichy ist auch in Der futurologische Kongreß die Hauptfigur (1971), einer satirischen Abrechnung mit einem durch Drogenzufuhr künstlich erschaffenen Paradies. Nach diesem Buch geht Lems Produktivität in Sachen SF eine Zeitlang zurück, bis 1982 Lokaltermin folgt. Sein letzter Roman Fiasko erscheint 1989; er selbst stirbt am 27. März 2006 in Krakau.
Der in Mainz lebende Literaturwissenschaftler und Slawist Alfred Gall (Jg. 1971) schildert Lems Leben kenntnisreich und stringent, verzichtet aber auf allzu Anekdotisches. Dank der gradlinigen Ausführung und zweier Register ist die Biografie auch als Werkführer geeignet, den man immer wieder zur Hand nehmen kann. Bisweilen hält sich Gall allerdings etwas zu sehr mit den prognostischen Elementen in Lems Texten auf, die unter literarischen Aspekten nachrangig sind; auch den politischen Zeitumständen wird etwas viel Raum gewidmet. Während Lems Auseinandersetzung mit der satirisch-aufklärerischen Literaturtradition (Swift, Voltaire) und Klassikern der Hochliteratur (Kafka, Th. Mann, Musil) angemessen eingebunden wird, bleibt seine intensive Beschäftigung mit angloamerikanischer Science-Fiction fast durchgehend eine Leerstelle. Dies ist von daher schade, weil die entsprechenden Beiträge – insbesondere die Studie Phantastik und Futurologie (1970) – auch da von Interesse sind, wo Lems Urteil fehlgeht, was durchaus häufiger der Fall ist. Ein wenig modisch mutet schließlich Galls Kritik der Geschlechterverhältnisse in Lems Werk an, wobei er das Fehlen von relevanten Frauenfiguren auf eine „Grenze in der Reichweite der Imagination des polnischen Schriftstellers“ zurückführt. Hier ist womöglich eher Florian F. Marzin beizupflichten, der in Lems Büchern schon 1985 eine „Unterdrückung der sexuellen Aspekte der menschlichen Existenz“ ausgemacht hat. Was ja im Genrebereich beileibe keine Überraschung wäre.
Letztlich sind diese Punkte allerdings zu vernachlässigen. Gall hat einen kenntnisreichen Reiseführer über den Kontinent Lem vorgelegt, der aufzeigt, was diese erstaunliche Welt im Innersten zusammenhält. Zum 100. Geburtstag ist das Buch ein Glücksfall.
Alfred Gall: Stanisław Lem. Leben in der Zukunft • WBG/Theiss • 284 Seiten • € 25 • E-Book € 19,99
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