5. August 2021 1 Likes

Zwanzig Milliarden hungernde Menschen

Überbevölkerung und Nahrungsmittelknappheit: „Tod im Staub“ von Brian W. Aldiss

Lesezeit: 4 min.

Der Tote kam über das Wasser. Ganz aufrecht, schwankt er von einer Seite auf die andere, als ob er auf den Wellenkämmen spazieren ginge; die weißen Leinenhosen kleben am Körper, der Mund ist kaum mehr als ein klaffendes Loch. – So eindrücklich beginnt Tod im Staub“ (im Shop), dem nach Die dunklen Lichtjahre (im Shop) und Graubart (im Shop) dritten dystopischen Meisterwerk von Brian W. Aldiss. Dem Roman gelingt es, sowohl Mahnung wie spannende Unterhaltung zu sein, und er hält auch erzählerisch jede Menge Überraschungen parat.

Es ist eine ruinierte und überbevölkerte Welt, in der Knowle Noland aufwächst. Nachdem die Reichtümer der Erde von früheren Generationen verschwendet wurden, stehen die Staaten in Ost und West am Rand der Auflösung. England hat nicht viel mehr als eine riesige landwirtschaftliche Nutzfläche zu bieten, auf der Häftlinge unter erbärmlichen Bedingungen minderwertige Nahrungsmittel anbauen, die den allgegenwärtigen Hunger nicht zu bekämpfen vermögen. Hoffnung besteht allein in Afrika, das seit dem Kollaps der Industrienationen einen beispiellosen Aufstieg vollzogen hat. Hier gibt es noch fruchtbaren Ackerboden, aber es existieren natürlich auch jene menschlichen Verhaltensweisen, die den Rest des Planeten ruiniert haben.

Der Brite Noland kennt das Elend der Plattformstädte mit ihren vielfältigen religiösen Gruppierungen, und er hat lange auf einer jener Farmen arbeiten müssen, für deren Wachen Menschenleben weniger zählen als der Wert eines Traktors. Als er zufällig den abtrünnigen „Wanderern“ begegnet, schließt er sich der Gruppe an, verrät ihren Anführer jedoch bei erstbester Gelegenheit. Dies verschafft Noland zwar eine neue Existenz jenseits der Farmen, aber die Schuld frisst sich so tief in sein Bewusstsein, dass er Medikamente benötigt, um einigermaßen bei Verstand zu bleiben.

Doch als er – unterdessen Kapitän eines Frachters mit Ziel Afrika – eine Leiche über den Wellen sieht, die von einem Antigravgerät nähergetragen wird, überschlagen sich die Ereignisse. Noland findet seltsame Briefe, sieht sich von einer geheimnisvollen Gestalt verfolgt und setzt schließlich den Frachter auf Grund, um an der Skelettküste Namibias an Land zu gehen. Schnell gerät er in eine rätselhafte Geschichte, deren Mittelpunkt nicht nur ein undurchsichtiger Engländer und seine mutmaßliche Geliebte bilden, sondern in die sogar der afrikanische Präsident verwickelt ist, jener Politiker, der als einziger in der Lage scheint, Frieden und Stabilität zu garantieren. Doch Noland wird immer wieder von Wahnvorstellungen überwältigt, die es ihm zunehmend schwieriger machen, sich auf seine Ziele zu konzentrieren. Und er ahnt nicht, welch drastischen Plan die geburtenkritische Geheimreligion der „Abstinenzler“ verfolgt – und wie weit ihre Vertreter bereit sind, für deren Umsetzung zu gehen.

Hatte Aldiss mit Greybeard noch einen Roman geschrieben, in dem SF-Elemente eher zurückhaltend Verwendung finden, so setzt er in dem 1965 erstveröffentlichten Earthworks wieder verstärkt auf Genremotive. Das Buch ist so tempo- und wendungsreich wie eine Agentengeschichte; dazu kommen eindrucksvolle Bilder wie das des über die Wellen tanzenden Toten oder der riesigen Plattformstädte, die sich über das geschundene Land erheben. Dieses erzählerische Kalkül macht die Schrecken einer alptraumhaften Welt, die über zwanzig Milliarden Menschen ernähren muss, überraschend unterhaltsam, beeinträchtigt aber nicht die Perspektive des Buchs. Tatsächlich nimmt Tod im Staub die Überbevölkerungsproblematik nachfolgender Werke zu diesem Thema vorweg; dies gilt sowohl für Make Room! Make Room! (1966; dt. New York 1999, im Shop) von Harry Harrison als auch für The Sheep Look Up (1972; dt. Schafe blicken auf, im Shop) von John Brunner. Zudem ist Aldiss‘ Roman von beängstigender Aktualität, weshalb sich zahlreiche heutige Debatten – etwa über den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft – in ihm finden lassen.

Doch Tod im Staub hat noch mehr zu bieten. Es handelt es sich auch um ein erzählerisch ambitioniertes Buch, das die üblichen Genreschablonen zwar zitiert, sie aber zugleich überwindet. Knowle Noland, aus dessen Perspektive die Geschichte berichtet wird, ist nicht nur ein kaum zur Identifikation einladender Verräter, sondern auch ein hochgradig unzuverlässiger Erzähler, dem mindestens einmal im Roman Schizophrenie attestiert wird. Dies erzeugt Unsicherheiten bei der Lektüre, weil der Wahrheitsgehalt von Nolands Schilderungen zumindest an einigen Stellen offenbleibt. Es erstaunt jedenfalls nicht, wie oft die Figur Tabletten einnimmt.

Wenig Spielraum lässt hingegen die Kritik des Buchs an der Menschheit, die ihr Schicksal – wie in Graubart – nicht nur verdient hat, sondern letztlich überhaupt nicht mehr zu retten ist. Weshalb der Roman auf eine drastische Lösung zusteuert, die – wie Aldiss auf seiner Homepage notiert – sehr dem damaligen Zeitgeist geschuldet sei: „more a sixties solution than an eighties one.“ Klugerweise bleibt aber offen, ob es wirklich zu diesem Ende kommt.

Brian W. Aldiss: Tod im Staub • Roman • Aus dem Amerikanischen von Evelyn Linke • Heyne, München 2020 • 160 S. • E-Book • € 8,99 • im Shop

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