Große Ideen aus dem Big Apple
Kim Stanley Robinsons „New York 2140“ ist optimistischer Katastrophenroman und fundierte Kapitalismuskritik
Ein Frühlingsmorgen in New York. Investmentbanker Franklin Garr verlässt die Anlegestelle im Met Life Tower und macht sich auf den Weg ins Büro. Einmal über das Madison Square Becken, die Dreiundzwanzigste entlang Richtung East River, von dort aus weiter auf den Hudson, immer die salzige Meeresluft im Gesicht. Vorbei an Hausmeistern in Taucherausrüstung und den riesigen schwimmenden Plattformen mit ihren Kränen, die die Kanäle ausbaggern; über ihm erstrecken sich die gläsernen Brücken, die die Wolkenkratzer miteinander verbinden. Die langsamen Vaporetti voller Pendler und die Wasstertaxen können mit seinem Schnellboot nicht mithalten, und Franklin ist ein guter Bootsführer, der jede noch so kleine Lücke im schlimmen New Yorker Verkehr auszunutzen weiß. Im Jahr 2140, fünfzig Jahre nach dem letzten, dramatischen Anstieg der Meeresspiegel, ist New York das neue Venedig. Die Reichen wohnen jetzt in ihren Supertowern auf dem Hügel bei den Cloisters, die Armen in Chelsea, das nur bei Ebbe trocken ist. Die Bürogebäude in Manhattan sind jetzt Wohnhäuser, die gemeinschaftlich verwaltet werden und Strom und Nahrungsmittel selbst erzeugen. Als vom Dachgarten des Met Life Towers zwei Programmierer verschwinden, setzen die Bewohner eine regelrechte Lawine von Ereignissen in Gang, die letztendlich das Leben aller Menschen auf der Welt zum Besseren verändern könnte.
„New York 2140“ (im Shop) ist ein Roman der Superlative: acht verschiedene Erzähler tragen ebenso viele Handlungsstränge, die alle zu einem gewaltigen Panorama unserer Zukunft verwoben werden. Da ist Inspector Gen Octaviasdottir, damit beauftragt, die verschwundenen Programmierer Jeff und Mutt zu finden. Ihr zur Seite steht Charlotte Armstrong, Mitglied im Verwaltungsrat des Met Life Towers. Daneben gibt es Hausmeister Vlade, der eigentlich mit der Instandhaltung der Gebäudeteile, die unter Wasser liegen, genug zu tun hat, aber trotzdem zwei Kinder bei sich aufnimmt, die davon besessen sind, einen versunkenen Goldschatz zu heben, und die Naturschützerin Amelia, die mit ihrem Zeppelin Eisbären von der Arktis in die Antarktis bringen will, um sie zu retten. Und Banker Franklin, dessen Firma WaterPrice gerade dabei ist, die nächste große Immobilienkrise auszulösen. Dazwischen kommt immer wieder ein namenloser Bürger zu Wort, der uns mit Hintergrundinfos versorgt, von der Stadtgeschichte New Yorks über die Katastrophen des Klimawandels bis hin zu einer detaillierten Analyse der globalen Finanzmärkte. Das kann zu Beginn der Lektüre einschüchternd wirken; hat man aber die ersten Kapitel hinter sich gebracht, hängt man am Haken.
Dazu trägt maßgeblich bei, dass die Grundstimmung eine zutiefst optimistische ist. Ja, es gab eine globale Katastrophe, und ja, New York muss sich auch in Zukunft Stürmen, Umweltverschmutzung, Flüchtlingen und Finanzhaien stellen, aber die Menschen passen sich an alles an, machen weiter, geben nicht auf – und tun irgendwann das Richtige. Dabei gibt es keine bösen Menschen im engeren Sinne. Manche Figuren sind etwas sympathischer als andere, aber keine ist wirklich böse. Wenn überhaupt, dann ist der Bösewicht das System selbst, der Kapitalismus, dessen Streben nach Wachstum um jeden Preis die Erde verwüstet hat. Und wie jeder gute Schurke hat auch dieses System eine Schwachstelle, und die werden wir Menschen eines Tages ausnutzen, um unsere Welt zu verändern – ganz wie Franklin Garr Charlotte Armstrong und ihre Mitstreiter in „New York 2140“.
Kim Stanley Robinson: New York 2140 • Roman • Aus dem Amerikanischen von Jakob Schmidt • Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 • Paperback • 816 Seiten • € 16,99 • im Shop • Leseprobe • Interview mit Kim Stanley Robinson • Gastbeitrag von Kim Stanley Robinson
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