11. Juli 2022 2 Likes

„Die verlorenen Briefe“ von Jim Bishop

Ein Comic-Traum zwischen Ghibli, SpongeBob und Der kleine Prinz

Lesezeit: 3 min.

Wenn etwas, auf das man schon lange voller Sehnsucht wartet, in der Post verloren gegangen zu sein scheint, dann ist das meistens eine höchst nervenaufreibende und unangenehme Angelegenheit. Im Fall des Comic-Albums „Die verlorenen Briefe“ von Jim Bishop werden überfällige Sendungen allerdings zum Ausgangspunkt eines bunten Science-Fiction-Comics und bittersüßen Sommer-Abenteuers, das westliche Bildergeschichten, fernöstlichen Manga und Anime sowie einiges mehr miteinander verbindet, während sich Bishop sogar explizit vor den Anime-Meisterwerken von Hayao Miyazaki und dem Studio Ghibli, „Dragon Ball“ von Akira Toriyama, „One Piece“ von Eiichiro Oda, „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry und „SpongeBob“ von Stephen Hillenbug verneigt.

„Die verlorenen Briefe“ setzt in einer Welt ein, deren Meeres-Ökosysteme durch die Menschheit weitgehend vernichtet wurden. Viele Fische, Krebse, Krabben und Tintenfische durchliefen daraufhin eine anthropomorphisierende Evolution und leben nun als Personen an Land unter den Menschen, in einigen Fällen brauchen sie dazu allerdings Roboterkörper mit einem Goldfischglas als Kopf. In dieser Welt wohnt der junge Iode mit seinem Pelikan-Freund Peli in einer abgelegenen Hütte an der Küste der Sonneninsel. Jeden Tag wartet er darauf, dass ihm der Clownfisch-Postbote endlich einen Brief von Iodes seit Langem abwesender Mutter bringt. Eines Tages wird Iode klar, dass der Brief in der Post verloren gegangen sein muss. Also bricht er mit dem Auto in Richtung Stadt auf, um selbst vor Ort bei der Post nachzuforschen. Unterwegs nimmt er die junge Anhalterin Frangine mit – ohne zu wissen, dass die für das kriminelle Syndikat des Tintenfischs einen wichtigen Koffer transportiert. Als sich in der Stadt schließlich auch noch der planlose Fisch-Polizist Cycy einmischt, entsteht ein ziemliches Chaos, aus dem einige überraschende Enthüllungen und Entwicklungen hervorgehen …

Jim Bishop, der eigentlich Julien Bicheux heißt, 1985 im Großraum Paris geboren wurde und u. a. schon den Comic „Jill & Sherlock“ veröffentlicht hat, hätte „Die verlorenen Briefe“ beinahe nicht vollendet: eine sein Selbstbewusstsein erschütternde Schaffenskrise sorgte dafür, dass er lange Zeit nicht an seinem Comic weiterarbeitete. Zum Glück fand er dank „Lou!“-Schöpfer Julien Neel und einem Besuch auf dem berühmten Comic-Festival in Angoulême auf die Sonneninsel zurück – Fans der neunten Kunst wäre sonst ein fantastisches Genre-Werk verwehrt geblieben. Natürlich sieht man auf jeder Seite und bei jedem Strich, vor welchen der eingangs aufgezählten Vorbilder und Einflüsse sich Bishop verbeugt. Doch das stört kein bisschen, da „Die verlorenen Briefe“ mehr ist als eine große, im Übrigen gelungene Hommage an diverse Manga- und Anime-Serien. Trotz aller Anleihen und Referenzen legt Bishop nämlich einen höchst originellen und sympathischen Comic-Stoff vor, mit tollem Setting, herrlichen Figuren, gutem Plot, sicherem Pacing und prächtigem Artwork. Lediglich der düstere Epilog am Ende wirkt deplatziert, aber das macht nach fast 200 Seiten nichts mehr kaputt.

Das Album ist dennoch ein Ghibli-Traum von einem Sommercomic, der das grafische Erzählen aus Ost und West so begeisternd verbindet wie „LastMan“ oder „Mechanica Caelestium“, um mal zwei Panel-Hybride der jüngeren Vergangenheit zu nennen, wenngleich das Abenteuer von Iode, Frangine und Cycy freilich ganz anders tickt. Der Einzelband gehört definitiv zu den Titeln, die man 2022 unter keinen Umständen verpassen darf. Und wer der Post nicht traut, kann sich „Die verlorenen Briefe“ ja einfach im Buch- oder Comic-Laden vor Ort holen.

Abb.: © by Jim Bishop, © 2021 Éditions Glénat/dt. Ausgabe Cross Cult

Jim Bishop: Die verlorenen Briefe • Cross Cult, Ludwigsburg 2022 • 208 Seiten • Hardcover: 30 Euro

 

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