6. Juni 2014

Waterworld auf dem Friedhof der Kuscheltiere

Niedlichkeit plus Tiefgang und Eleganz: Marine Blandins als sanft dystopische Allegorie getarnte „Nautische Fabel“

Lesezeit: 2 min.

Schon der Vorname der Künstlerin weckt wässrige Assoziationen. Und schon vor Marine Blandin hat zum Beispiel deren Landsmann und Kollege Bastien Vivès mit „Der Geschmack von Chlor“ gezeigt, welches comicästhetische Räumlichkeits-, Körperlichkeits- und Erzählpotential Motive des Wassers und Schwimmens zu entfalten imstande sind.

Eine Badeanstalt als ganze und buchstäblich geschlossene Welt wie Blandins Nautiland ist dann aber doch etwas ziemlich Neues und Eigenes und verleiht dem, was man sich unter „Erlebnisbad“ vorstellen mag, eine völlig neue Bedeutung. Die gigantische Schwimmbad-Kuppel-Architektur von Nautiland ist auf dem Grund eines eingeebneten Haustierfriedhofs errichtet. In ihr existiert – neben einer stark wuchernden und bisweilen aggressiv aktiven Flora – eine ziemlich strenge, von Topoi des öffentlich-institutionalisierten Bäderwesens (kleine Becken, große Becken, Rutschen, Wasserballett und -gymnastik, Mannschaftsspiele, Bademeister, Spinde, Umkleiden etc.) sozial und geografisch fixierte Gesellschaftsordnung. In den Tiefen bzw. der Unterwelt, dem Wurzelwerk und den Katakomben dieses hermetischen Kleinkosmos‘ herrscht jedoch Durchlässigkeit zu einer jenseitigen Welt, der Welt von Vormals, der Welt der Geister der Tiere, die einst dort begraben wurden. Nachdem es etliche Begegnungen zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern von Nautiland und der Fauna der Vergangenheit gegeben hat und die so mutige wie freiheitsstrebende Balletteuse Gormone im Auftrag der gleich den Macbeth-Hexen aus ihrem Whirlpool heraus orakelnden drei „Jacuzzi-Nymphetten“ einen Tauchgang zum Grund des tiefsten Schachts wagt, um einen geheimnisvollen Spindschlüssel an die Oberfläche zu bringen, zeigt sich der Weg in die Welt außerhalb Nautilands.

Der Gattungs- oder Deutungshinweis, den Autorin und Zeichnerin Marine Blandin gibt, indem sie ihren Comic als Fabel klassifiziert, scheint zunächst eine falsche Spur zu legen. Ist die „Nautische Fabel“ nicht eher eine dystopische Allegorie? Wo sind hier die personifizierten Tierfiguren? Wo die Belehrung? Was ist die Moral der Schlusspointe? Oh ja, all das ist da, wie überhaupt alles in dieser mild bizarren Welt seinen Ort behauptet, einschließlich der Seelen längst verstorbener geliebter Schoßtiere. Man muss lediglich danach gründeln, während man sich durch Blandins elegante Studie in Wasser, Bewegung, Tiefe, Raum und Hasenliebe, in welcher sich Niedlichkeit und Abgründigkeit das Wasser reichen, treiben lässt. Sowohl grafisch als auch bezüglich der originären erzählerischen Souveränität steht die Künstlerin in enger Nachbarschaft zu Leuten wie Manu Larcenet oder Kerascoët-Werken wie „Jenseits“ oder „Schönheit“. Immer wieder aufs Neue beeindruckend, diese französische Comic-Debüt-Grandezza.

Marine Blandin: Eine nautische Fabel · Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock · Carlsen Verlag, Hamburg 2014 · 144 Seiten · € 17,90

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