27. September 2022 1 Likes

„Athena“ - Bildgewaltige Vorstadt-Apokalypse

Revolutions-Chic von Romain Gavras

Lesezeit: 4 min.

Es ist mit Sicherheit super-cool einen legendären Regisseur als Papa zu haben, allerdings bringt das vermutlich die größten Schwierigkeiten mit sich, wenn man nicht Steuerfachangestellter werden, sondern in die Fußstapfen des alten Herren treten will. Brandon Cronenberg wird ein Lied davon singen können und mit Sicherheit auch Romain Gavras, Sohn von Regisseur und Drehbuchautor Costa-Gavras, der für eine Reihe grandiose, wegweisende Politthriller wie „Z“ (1969), „Das Geständnis“ (1970), „Der unsichtbare Aufstand“ (1972) oder „Vermisst“ (1982) verantwortlich war und von großen Namen wie Oliver Stone, William Friedkin oder Steve Soderbergh als prägender Einfluss angegeben wird. Romain Gavras gibt sich meist ebenso politisch und sorgte vor allem mit den kontroversen Musikvideos zu „Stress“ (2007) von Justice und zu „Born Free“ (2010) von M.I.A., die auf äußerst drastische Weise Ganggewalt und Rassismus und Polizeiwillkür thematisierten, für großes Aufsehen. Seine beiden Spielfilme „Our Day Will Come“ (2010) und „The World is Yours“ (2018) hatten allerdings lange nicht soviel Nachhall. Jetzt wurde von Netflix sein dritter Film „Athena“ veröffentlicht und der bestätigt leider den bisherigen Eindruck: Gavras ist ein exzellenter, technisch ungemein versierter Regisseur, leider aber ohne Blick für Drehbücher, die sich auf einem adäquatem Level zu seiner formalen Klasse bewegen.

„Athena“ erinnert an sein Musikvideo „No Church in the Wild“ von Jay-Z und Kanye West: Wieder stehen sich zwei Gruppen gegenüber, junge Leute auf der einen, Polizisten auf der anderen Seite. Wieder fliegen Molotow-Cocktails, wieder krachen die Knüppel der Gesetzeshüter auf Knochen. Der große Unterschied: In dieser Variante ist alles weitaus opulenter, mehr Personal, mehr Geschosse – es würde nicht wundern, wenn seit dem Dreh Bengalo-Knappheit in Frankreich herrscht – und eine noch ausgefeiltere technische Seite. Gavras setzt auf lange, perfekt durchkomponierte, wirklich atemberaubende Sequenzen (in den ersten 10 Minuten gibt es keinen sichtbaren Schnitt), was im erstem Drittel einen ungeheuer immersiven Effekt hat: Der Film legt sofort los, zieht einen mitten ins Geschehen, lässt einen spüren, wie es ist – die aufgepeitschte Stimmung, die fehlende Übersicht, die permanent durch die Nacht zischende Geschosse, der allgegenwärtige Rauch und Lärm, so fühlt er sich an, der Zusammenbruch der sozialen Ordnung – the kids are not alright, they want fucking war.

Doch Gavras hat mehr im Sinn, er will unbedingt die ganz große Tragödie und fängt allmählich an, von vier Brüdern zu erzählen. Der jüngste wurde von Polizisten tot geprügelt, die Tat wurde aufgezeichnet, das Video landete im Netz, worauf der drittälteste Bruder Karim einen Aufstand in der kleinen Gemeinde Athena anzettelt. Beim zweitältesten Bruder handelt es sich um einen Kriegsveteranen, der von der Polizeibehörde zu Deeskalation eingesetzt wird. Der älteste, Moktar, interessiert sich dagegen kein bisschen für den Konflikt, sondern will nur Drogen und Waffen in Sicherheit bringen, bevor die Polizisten den Wohnkomplex stürmen.

Logisch, dass eine derartige Konstellation Probleme mit sich bringt, allerdings erzeugen diese nur wenig emotionalen Resonanz, so sehr sich die etwas zu aufdringliche, aber trotzdem mitreißende, mit Chorälen durchtränkte, Filmmusik von Gener8ion und Surkin auch bemüht. Das liegt noch nicht mal so sehr daran, dass man die vier Figuren im Schlachtengetümmel kaum kennenlernt, sondern an eher arg ruckartigen Charakterentwicklungen, die selbst in dieser äußerst angespannten Situation nur wenig glaubwürdig wirken. Das betrifft vor allem Moktar, ein permanent herumbrüllender, aggressiver Unsympath, der urplötzlich eine komplette Kehrtwende macht, nur weil dem Drehbuch gerade danach ist.

Das „Athena“ zu den permanent in der Luft schwebenden Themen wie Perspektivenlosigkeit oder Polizeiwillkür nichts zu sagen hat, wäre gar nicht mal so schlimm, wenn man das Ganze als reines Spektakel versteht. Allerdings kommt erschwerend dazu, dass Gavras dem Geschehen nach einer Weile eine durchaus reizvolle Ambivalenz hinzufügt, seinem Film offensichtlich etwas mehr Tiefgang verleihen will, es ist nämlich gar nicht so sicher, ob es überhaupt Polizisten waren, die für den Tod des Jungen verantwortlich waren. Er kann sich es aber nicht verkneifen, diese in den letzten Minuten aufzulösen, was zur Folge hat, dass urplötzlich ein weiteres Thema (Rassismus) aus dem Hut gezogen wird, was aber wieder verpufft, da sogleich der Abspann läuft.

„Athena“ ist eine klassische Blendgranate und als solche durchaus ganz okay. Wuchtiger, hervorragend gemachter Revolutions-Chic mit toller Musik (die als digitale Version bei Amazon & Co. erhältlich ist) und dank schlanker 95 Minuten Laufzeit alles in einem ganz gut runterguckbar. Der Papa aber schwebt nach wie vor in einer ganz anderen Liga.

Athena • Frankreich 2022 • Regie: Romain Gavras • Darsteller: Dali Benssalah, Anthony Bajon, Sami Slimane, Quassini Embarek, Karim Lasmi, Mehdi Abdelhakmi, Birane Ba • auf Netflix

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