12. Juni 2022 2 Likes

„Belle“ – Übervoll, aber trotzdem absolut bezaubernd

„Die Schöne und das Biest“ im Cyberspace

Lesezeit: 3 min.

Es geht, im Kern, darum: Die 17-jährige Suzu war einst ein fröhliches Mädchen, doch dank einem schrecklichen Kindheitserlebnis ist sie nun in sich gekehrt, hat das Singen, das ihr einst so viel Spaß gemacht hatte, aufgegeben, spricht nur noch das Nötigste und geht ihrem Vater, mit dem sie in einem abgeschiedenen Dorf auf dem Land lebt, am liebsten aus dem Weg. Auf der Schule ist die nerdige Technik-Spezialistin Hiro ihre einzige Freundin. Eines Tages lädt Hiro Suzu ins gigantische Online-Netzwerk U (ungefähr das Metaverse, von dem Metaverse-Entwickler nachts extrem feucht träumen) ein. Die ist erstmal nicht allzu angetan, legt aber dennoch einen Account an und traut sich in der anonymen Alternativrealität wieder zu singen! Mit Erfolg! Suzu steigt zum virtuellen Superstar Belle auf, was natürlich bald Spekulationen um ihr wahres Ich aufkommen, aber ebenso einen mysteriösen Drachen-Avatar aufmerksam werden lässt, dem die Regeln der Cyberwelt so ziemlich egal sind …

Der Plot von „Belle“ ist nur schwer adäquat in Worte zu fassen, man kann zwar problemlos folgen und fühlt sich bestens unterhalten, merkt nach dem Schauen aber, dass sich das Ganze kaum richtig nacherzählen lässt, denn der Anime des japanischen Regisseurs und Drehbuchautoren Mamoru Hosoda quillt so dermaßen über vor Leidenschaft, will so viel auf einmal (Romanze, Gesellschaftsporträt, Drama, Coming-of-Age, Action undundund), dass er – obwohl unübersehbar ist, dass der Disney-Klassiker „Die Schöne und das Biest“ (1991) eine Art Blaupause darstellt – nicht mehr wirklich greifbar wird. Einem weniger talentierten Regisseur würde man die Ungestümheit sicherlich vorwerfen, aber Hosoda wechselt so gekonnt zwischen verschiedenen Tempi und Stimmungen, schafft so viele eindrucksvolle Einzelmomente, dass man sich nur allzu bereitwillig dem Sog der Ereignisse hingibt. Zumal der Anime mit einer visuellen Seite aufwartet, die nur allzu schmerzvoll vor Augen führt, was dem gegenwärtigen Kino fehlt: Der Mut Grenzen zu sprengen, der Mut zum Herausfordernden, Überfordernden, der Mut, zu träumen. „Belle“ wechselt nahtlos zwischen Bildern einer 2D-animierten realen Welt, mit wunderschönen, oft fotorealistischen Hintergründen, und prächtigen 3D-gerenderten Bildern der virtuellen Welt. Letztere ist ein glänzender, gelegentlich ins Funkeln übergehender Raum, der unendlich wirkt, in dem alles möglich scheint, was durch eine erschöpfende Vielzahl an – meist umherschwebenden – surrealen Details visualisiert wird, die die sterile Virtuality-Reality-Atmosphäre vergessen lassen und diesem kaum adäquat beschreibbare Paralleluniversum eine Fleischlichkeit verleihen, die U als gleichwertige Parallele zur realen Welt erscheinen lässt.

Und genauso wie beide Welten visuell nebeneinander stehen, kippt Hosoda inhaltlich keinesfalls in eine sich eigentlich anbietende und in den letzten Jahrzehnten so oft durchexerzierten Technophobie, sondern umarmt die Zukunft: Er macht die Nachteile der aus Bit & Bytes generierten Welt deutlich, die Verlorenheit vor den Bildschirmen und den nur allzu schnell aufglühenden Hass. Er macht mit der Entwicklung seiner Heldin deutlich, dass Menschen zu Online-Helden, aber auch zu reale Helden werden können, egal in welcher Welt wir uns bewegen – wie das Morgen aussieht, liegt an uns. Das ist sicherlich eine naive Botschaft, anderseits scheint da tatsächlich noch jemand Hoffnung zu schöpfen. Zur Abwechslung mal ganz angenehm.

[Achtung! Die Kritik gilt ausschließlich für die japanische Originalversion, in der die eigenwilligen J-Pop-Songs von der Band Millenium Parade beigesteuert wurden. Der deutsche Verleih hat sich entschlossen die Songs in der Synchronfassung durch Power-Balladen zu ersetzen, die von Suzu-/Belle-Synchronsprecherin Lara Trautmann gesungen werden. Eine Entscheidung, die dem Film laut diversen Quellen nicht gerade gut tut.]

„Belle“ läuft seit dem 9. Juni 2022 im Kino und erscheint am 28. August 2022 von Koch Media auf Blu-ray und DVD.

Belle • Japan 2021 • Regie: Mamoru Hosoda • Sprecher: Tina Tamashiro, Ryô Narita, Shôta Sometami, Takeru Satô, Toshiyuki Morikawa, Kenjirô Tsuda, Kôji Yakusho

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