„Cassandra“ - KI-Version
Eine deutsche Netflix-Serie versucht sich an einer allzu komplizierten Geschichte
Okay, vielleicht ist die Retrowelle jetzt also in den 70er Jahren angekommen. Würde ja Sinn machen, die 80er sind nach „Stranger Things“, „Dark“ und unzähligen Nachfolgern inzwischen popkulturell langsam abgegrast. Vielleicht wird die neue deutsche Netflix-Serie „Cassandra“ also zumindest in dieser Hinsicht als stilbildend gelten, denn was Autor und Regisseur Benjamin Gutsche und vor allem seine Ausstatter hier an 70er Jahre Design auffahren, ist beeindruckend.
Auch am Budget für den passenden Sound wurde nicht gespart, schon über der ersten Szene erklingt ein Song von Liane Covi, diverse 70er-Jahre Schlager folgen, doch dann geht es erst einmal in die Gegenwart. Dort zieht die typisch deutsche Familie (bzw. das, was laut der Netflix-Algorithmen offenbar eine typisch deutsche Familie ausmacht) in ein neues, schon verdächtig einsam und abgelegenes Haus: Die Bildhauerin Sam (Mina Tander), ihr Mann David (Michael Klammer), ein Schriftsteller, und die beiden Kinder Fynn (Joshua Kantara) und Juno (Mary Amber Oseremen Tölle). Vor kurzem hat ein Schicksalsschlag das Glück der Familie erschüttert, nun soll ein Neuanfang die Wunden kitten, doch offensichtlich hat man sich nicht wirklich mit dem neuen Heim auseinandergesetzt.
Denn dieses erweist sich als erstes Smart Home Deutschlands, das bereits in den 1970er Jahren eingerichtet und mit einer Künstlichen Intelligenz ausgestattet wurde, die sich als so avanciert herausstellt, dass sie selbst Chinesen im 21. Jahrhundert zur Industriespionage reizen dürfte. Andererseits klappert ein mannshoher Roboter mit Monitor als Kopf durch die Gegend, der so labil wirkt, dass ein kleiner Schubser ihn umwerfen und alle Gefahren in Luft auflösen würde. Doch dafür müssten sich die Familienmitglieder wie normale, rationale Menschen verhalten, was in Filmen und Serien dieser Art ja ohnehin selten der Fall ist, in „Cassandra“ allerdings noch deutlich weniger.
So nimmt es die Familie mit bemerkenswerter Gelassenheit hin, dass das Roboter-Wesen Cassandra, dem Lavinia Wilson ein digital verfremdetes (aus den 70er Jahren? Ja, man sollte hier nicht zu viel denken …) Gesicht und eine manipulative Stimme leiht, zunehmend Zwietracht sät. Selbst als Cassandra fast das Haus in Brand steckt oder Sam im Schrank einsperrt, kommt niemand auf die Idee, dauerhaft den Stecker zu ziehen oder einfach Reißaus zu nehmen.
Wie dämlich sich die Figuren verhalten, ist besonders deswegen bedauerlich, da Benjamin Gutsche erzählerisch durchaus ambitioniert vorgeht. Denn ein Teil der Serie spielt in den 70er Jahren und erzählt davon, wie Cassandra wurde, was sie ist. Damals war sie die Ehefrau des genialisachen Ingenieurs Horst Schmitt (Franz Hartwig), der an der Entwicklung einer Künstlichen Intelligent arbeitete, dabei aber seine reale Familie ein wenig vernachlässigte. Deren Probleme spiegeln nun die Probleme der Familie in der Gegenwart, Krankheit, Diskriminierung, Mobbing, wenig wird ausgelassen, was einerseits ein bisschen viel, andererseits auch spannend ist.
Nicht einfach nur eine weitere Variation der Geschichte von der bedrohlichen Künstlichen Intelligenz will „Cassandra“ sein, sondern eine Art Frankenstein-Variante, gepaart mit einer feministischen Note, die vom Männer-Frauen-Verhältnis in verschiedenen Zeitebenen erzählt und davon, dass sich in Bezug auf Emanzipation und Gleichstellung vielleicht doch nicht so viel verändert hat wie gedacht oder erhofft.
Das ist ambitioniert, aber auch arg viel, das führt immer wieder zu interessanten Momenten, wirkt allerdings auch sehr gewollt, ganz besonders in der betont diversen Familie der Gegenwart, die so sehr an den Zeitgeist angelehnt anmutet, dass sie wenig lebensnah wirkt. Und am Ende mag man sich dann auch fragen, wer denn eigentlich die mythologische Kassandra in „Cassandra“ sein soll: Laut der antiken Mythologie wurde so eine tragische Heldin bezeichnet, die ein Unheil voraussah, aber nie Gehör fand. Diese Warnungen sind die berühmten Kassandrarufe, aber weder die echte Cassandra in den 70ern, noch die künstliche in der Gegenwart passt dazu, was dann vielleicht aber auch zu einer Serie passt, die viel mit Bezügen und Verweisen spielt, aber am Ende all die Einzelteile nicht ganz zusammenbringt.
Cassandra • Deutschland 2025 • Creator: Benjamin Gutsche • Darsteller: Lavinia Wilson, Mina Tander, Michael Klammer • sechs Folgen, jetzt bei Netflix
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