3. Mai 2016 4 Likes

Das Liebesleben der Krustentiere

Menschen im Hotel: „The Lobster“

Lesezeit: 5 min.

Die Dystopie als literarisches Genre erlebt gerade mal wieder einen neuen Frühling. Seit ihrer massenwirksamen Initialzündung zu Beginn/Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem paradigmatischen Dreiklang aus Huxleys Schöne neue Welt (1932), Orwells 1984 (1948) und Samjatins Wir (1958) ist sie immer wieder das Mittel der Wahl, wenn es darum geht, innerhalb eines soziopolitischen SF-Settings gesellschaftliche Entwicklungen ihrer Enstehungszeit durch Extrapolation in eine konsequent weiter gedachte Zukunft auf ihre möglichen Konsequenzen hin zu untersuchen. Sie ist dadurch stets in der Lage, tagesaktuell und prophetisch, analytisch und satirisch, relevant und versponnen gleichzeitig zu sein. Und ganz nebenbei auch noch höchst unterhaltsam, denn trotz aller erhobener Zeigefinger und metaphorischer Warnhinweise machen futuristische Spekulationen natürlich auch immer großen Spaß. Nicht ganz unwichtig, wenn es um Bestsellerlisten geht.

Dass die Anti-Utopie momentan ausgerechnet im „Young Adult“-Sektor  ihre größten Erfolge feiert, ist nur ein weiterer Indikator für ihre kontinuierliche Popularität und prinzipielle gattungstypische Flexibilität. Und auch in der „erwachsenen“ Belletristik finden sich in Zeiten von Wikileaks, TTIP-Enthüllungen, Islamophobie und ähnlich heißen Themen wiederholt neue Publikums-Titel wie Dave Eggers „Der Circle“ oder Michel Houellebecqs „Unterwerfung“. Eine Konstante, die auch für den Filmsektor gilt – und das immer wieder auch jenseits der großen Blockbuster-Franchises von Hunger Games bis Maze Runner.

Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos fügt dem Genre-Kanon nun mit seinem verschrobenen Gedankenspiel The Lobster ein weiteres sehr gelungenes Exemplar hinzu. In klassischer Dystopie-Manier widmet er sich dem äußerst komplexen Wechselspiel von Gesellschaft und Idividuum, ergänzt diese oft behandelte Dichotomie aber durch eine weitere spannende Komponente: die private Paar-Beziehung. Die Prämisse geht ungefähr so: In dieser Welt (gedreht wurde das Ganze in Irland) ist das Single-Dasein gesetzlich verboten. Partnerschaft ist ein Muss; wer dieses Modell nicht lebt (etwa durch Verlust des Ehegatten, Trennung etc.), erhält während eines 45-tägigen Aufenthaltes in Kurhotel-ähnlichen Einrichtungen die Gelegenheit, eine neue bessere Hälfte zu finden. Sollte dies nicht gelingen – nun, in diesem Fall erfolgt die Verwandlung in ein Tier eigener Wahl.

Dieser fantastische Twist ist nicht die einzige höchst idiosynkratische Wendung des Films, der die prinzipiell offenen Genre-Grenzen erfrischend neu austestet. The Lobster erreicht auf vielen Ebenen wunderbar surrealistische Qualität, indem er seine Protagonisten die eigentümlichsten Wendungen mit stoischer Gleichgültigkeit über sich ergehen lässt. In dieser Welt ist einiges möglich – und doch ist sie von bis ins Detail durchgehaltener Logik geprägt. Eine Logik, die von trockenster Komik über tieftraurige Melodramatik bis hin zu blankem Horror alles zulässt, ohne den Tonfall des Films über Gebühr zu variieren. Hier ergibt alles einen Sinn: das seltsame Hotelleben als gefühlter Sanatoriumsaufenthalt inklusive unbeholfener Anbändelei, die Diskussionen über die Sinnhaftigkeit bei der Wahl der zukünftigen Tierform, das zwanghafte Bestehen auf der Pärchen-Norm, die Ausflüge in den Wald zur Jagd auf „Einzelgänger“, Ausreißer aus dem System.

Durch diesen von Mozart untermalten, mit Zeitlupensequenzen angereicherten und von Rachel Weisz’ Erzählerstimme kommentierten surrealen Albtraum tapst der großartig angeschwollene, schnauzbarttragende Colin Farrell wie eine Mischung aus Buster Keaton und Charlie Chaplin mit traurigen Augen vor sich hin. Als kürzlich Verlassener führt er den Zuschauer als neuester Hotelgast in diese seltsame Welt ein - inkl. Hund, der einmal sein Bruder war. Für ihn beginnt nun die Suche nach der zukünftigen Partnerin – und in den Balzritualen versteckt Lanthimos vielschichtige Verweise darauf, wie Partnersuche heute funktioniert. Man forscht verzweifelt nach Gemeinsamkeiten, und wo es keine gibt, werden einfach welche konstruiert. Um nicht als titelgebender Hummer eines Tages im Kochtopf zu enden, spielt Farrells Figur David einer völlig herzlosen Dame etwa eine Form äußerster Empathielosigkeit vor, die schließlich hochdramatische Auswirkungen hat. Anderen Hotelgästen geht es ähnlich; Ben Whishaw ist hier als kühl berechnender Nasenbluter ein besonders prägnantes Beispiel. Die erste Hälfte des Films ist in ihrem Fokus auf die Rituale innerhalb eines zeitlich und räumlich klar formulierten Rahmens ein nahezu makelloses Beispiel dafür, wie Genre und Autorenschaft perfekt Hand in Hand gehen können, wenn jemand weiß, wie’s geht. In seinen besten Momenten erinnert The Lobster hier nicht nur an Buñuel, sondern auch an Kubrick. Clockwork Orange hat Lanthimos jedenfalls nicht nur einmal gesehen, soviel ist sicher.

In der zweiten Hälfte gelingt David dann die Flucht in die das Hotel umgebenden Wälder. Doch auch die hier lebenden Einzelgänger bilden kein erstrebenswertes Gegenmodell zum Pärchen-Wahn. Im Gegenteil: In ihrem gegenläufigen Dogmatismus sind diese Waldbewohner das logische Gegenstück zum staatlichen Gebot, denn hier sind romantische Liebe und Zweisamkeit strikt untersagt und die Sanktionen ähnlich gravierend wie im Hotelbetrieb. Dass David sich nun ausgerechnet hier verliebt, nutzt Lanthimos als Kniff, um die Unbarmherzigkeit und individuell ausgeprägte Kaltherzigkeit jeder Form von Dogma zu verdeutlichen. Indem er die Regeln hier einfach umdreht, zeigt er, dass Individuum und Gesellschaft ihre jeweile Beziehung immer wieder neu aushandeln müssen, wenn das Private privat bleiben soll. Das führt zu einer Reihe großartiger Szenen, in denen Vorgespieltes plötzlich echt wird und hinter der Fassade einer nur behaupteten Renegantenhaftigkeit verschwindet, wenn etwa David und seine Flamme endlich ohne Bestrafung Zärtlichkeiten austauschen dürfen, weil dies in der „Stadt“ so verlangt wird. Als Guerillakämpfer gegen das System müssen sie nun den Schein wahren – doch der ist plötzlich ganz real geworden.

Verschachtelungen dieser Art machen die zweite Hälfte von The Lobster zu einem Panoptikum der Ideen, in dem aber zuweilen die Pferde mit den Machern durchgehen. Jetzt wird alles rausgehauen, was irgendwie noch reinpasst – und der Film verliert dadurch ein bisschen den Faden. Die meisterhafte Erzählökonomie der Hotel-Hälfte löst sich zunehmend auf im Ungefähren – der kühle Surrealismus bekommt Züge dessen, was passiert, wenn Charlie Kaufman ohne Spike Jonze auskommen muss.

Sei’s drum, Yorgos Lanthimos ist mit The Lobster etwas wirklich Sehenswertes gelungen. Zwar nicht immer voll fokussiert, aber nie unintelligent, unterkomplex oder langweilig hat der Regisseur von großartigen Gesellschaftsparabeln wie Dogtooth (2009) mit seinem ersten englischsprachigen Film dem Genre der Anti-Utopie, die im Kino zuletzt eher durch Big-Budget-Spektakel repräsentiert wurde, ein tolles Stück Autorenkino hinzugefügt. Fantastische Kamera, großartige Darsteller, stoisches Erzähltempo und ein beeindruckend lakonisches Drehbuch treffen auf einen überbordenden Katalog hinterfragenswerter Ideen zu dem unerschöpflichen Spannungsfeld, in dem wir uns alle jederzeit befinden – egal ob Einzelgänger, Beziehungsjunkie oder Gruppenmitglied.

Am Ende bleibt die zumindest hier ambivalente Frage: Ist der Hummer eigentlich ein Herdentier?

The Lobster ist seit dem 28.4.2016 auf Blu-ray und DVD erhältlich.

Abb. © Sony Pictures Home Entertainment

The Lobster (Irland, UK, Griechenland, Frankreich, NL, USA 2015) – Regie: Yorgos Lanthimos – Darsteller: Colin Farrell, Rachel Weisz, Jessica Barden, Léa Seydoux, Ben Whishaw, Olivia Colman, John C. Reilly

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.