9. Juni 2020 2 Likes

Debüt eines Meisters

„Die Weite der Nacht“ - So wenig und doch so unglaublich viel

Lesezeit: 4 min.

Man kennt das ja: Ein gewisses Lebensalter ist erreicht und plötzlich wird man melancholisch, denkt zurück an früher, wie toll doch damals alles war. Diese Entwicklung dürfte so ziemlich jede Generation mal durchmachen, der eine weniger, der andere mehr, aber irgendwann trifft’s die meisten, dieser Hang zur Nostalgie. Plötzlich sind die alten Klamotten, in die man damals unter Androhung von Prügel gesteckt wurde, irgendwie ja doch geil, plötzlich erglühen alte Popsongs, für die man früher zu cool war, im neuen Glanz, plötzlich sehnt man sich nach alten, vermeintlich unbeschwerten Kindertagen zurück, scheint sich aber nicht mehr an den Muskelprotz aus der Oberstufe erinnern zu können, der in der großen Pause immer Mamas liebevolle zubereitete Stulle gemopst und einem dann den Kopf in die Toilette gedrückt hatte.

Ich seh das ganze „Hach, damals …“-Geheul immer etwas mit gemischten Gefühlen: Auf der einen Seite gab’s beispielsweise wohl kaum ein Jahrzehnt, dass so viele wahnsinnig tolle Filme hervorgebracht hat, wie die 1970er, auf der anderen Seite steht einem mit einem Mausklick mehr fantastische Musik zur Verfügung als je zuvor. Einiges war gut, so manches ist besser.

Was ich aber definitiv vermisse: Den unschuldigen Blick eines Kindes. Dieser Blick, der Leerstellen ausfüllt. Dieser Blick, der für die unglaublichsten Bilder im Kopf sorgt. Natürlich, heutzutage muten alte Comics, alte Computerspiele oder – womit wir beim Thema wären – alte Science-Fiction-Filme naiv an. Wir sind „besseres“ gewohnt, ausführlichere Drehbücher, die keine Fragen offenlassen, bessere Technik, alles ist schärfer, deutlicher, jede Leerstelle wird von anderen und nicht mehr von unserem Kopf ausgefüllt, obwohl das, was sich in unserer Fantasie abspielt, doch soviel aufregender, spektakulärer ist, als alles, was sich je vor uns auf dem Bildschirm abspielen könnte.

Die Weite der Nacht“ (The Vast of Night), der Debütfilm von Andrew Patterson, zwingt uns genau diesen Blick wieder auf, präsentiert wird die Geschichte im Rahmen einer Folge der fiktiven TV-Sendung „Paradox Theatre“: Während fast alle Einwohner zu einem Baseballspiel zusammengekommen sind, gehen Ende der 1950er-Jahre in einer kleinen Stadt in New Mexico Radio DJ Everett (Jake Horowitz) und Fay (Sierra McCormick), die Mitarbeiterin der Telefonvermittlung, dem Ursprung einer mysteriösen Tonfrequenz nach …

Erzählt wird nichts Neues, die wesentlichen Bestandteile kennt man aus Vorläufern wie „The Blob“, „Twilight Zone“ oder „Akte X“, das Ende ist somit absehbar. Entscheidend ist die Form, denn es wird voll und ganz auf Atmosphäre, die durch eine technisch virtuose, perfekt und wunderschön ausgeleuchtete, grobkörnig realisierte Mischung aus ruhigen, statischen Momenten und beeindruckenden Kamerafahrten erzeugt wird. Der Regisseur verweigert sich in seiner Gestaltung dabei jeglicher Klarheit, sondern hält seinen Film in einer eigentümlichen Schwebe. Alles wirkt seltsam mit einem Schleier von Irrealität überdeckt, aus einer gewissen Distanz heraus betrachtet, Personen werden von hinten gefilmt, Gesichter sind entweder von Schatten verschluckt oder hinter dicken Hornbrillen versteckt.

Zudem scheut sich Patterson nicht, das reine Narrativ auf unterschiedliche Art und Weise komplett in den Vordergrund zu stellen, seine Zuschauer sozusagen um Bilder zu betrügen. In einer zentralen Sequenz, in der ein unheimlicher Anrufer den Kids von mysteriösen Ereignissen erzählt, ist über Minuten nur Schwärze zu sehen und in einer weiteren, statisch eingefangenen Sequenz widmet sich das Drehbuch lange Zeit komplett der aufregenden Geschichte einer alten Frau, allerdings sehen wir eben nur die reden.

„Die Weite der Nacht“ wirkt stellenweise fast schon mehr wie ein bebildertes Hörspiel. Minimalistischer und subtiler geht kaum noch. Natürlich, es wundert kaum, dass Stimmen laut geworden sind, wie öde das doch alles ist, der Punkt ist aber: Wer sich noch ein bisschen von der angesprochenen Unschuld bewahrt hat, wer sich wirklich Zeit nimmt, sich drauf einlässt, wird schnell feststellen, dass das, was wir da alles diesen Bilder hinzuaddieren oder in sie hineinprojizieren um einiges spannender als alles ist, was Hollywood in den letzten Jahren an High-Tech-Effekten aufgefahren hat. Was allerdings nicht heißt, dass es hier gar keine Effekte zu sehen gibt, nur wenn „Die Weite der Nacht“ nach langer Zeit schlussendlich konkret wird, handelt es sich um einen wahrhaftigen Höhepunkt.

Dem grandiosen Science-Fiction-Abenteuer gelingt außerdem noch etwas weiteres Wunderbares: Er schafft es im wortwörtlichen Sinne seine Zuschauer „in den Bildschirm zu saugen“. Mutet der Kniff, den Film als TV-Beitrag zu präsentieren (am Anfang fährt die Kamera an ein Fernsehgerät ran, auf dem der Titel zu sehen ist) anfänglich wie ein Gimmick an, wird irgendwann klar, wieso der Einstieg gewählt wurde, denn das Protagonistenpärchen rückt mit zunehmender Laufzeit näher und an näher an die Zuschauer ran, man erfährt über ihre Lebensumstände (die Geschichte spielt in einer Zeit, die vom kalten Krieg und von Rassismus geprägt war), über ihre Isolation, ihren Wunsch nach Selbstentfaltung und vor allem von ihrer Neugierde auf die Zukunft. Die beiden Charaktere werden nach und nach mit Leben aufgefüllt, transzendieren ihre ausgestellte fiktive Provenienz, brechen aus dem vermeintlichen Film heraus, werden „echt“. Umso weiter dieser Prozess fortschreitet, umso mehr wird klar, dass – hier stellt sich „Die Weite der Nacht“ folgerichtig ähnlichen Geschichten quer – die beiden das Gefühl, dass da draußen etwas ist, was man nicht greifen kann, etwas, was die Dinge verändert, vielleicht gar nicht als Bedrohung, sondern eher als Chance sehen.

Ein Debüt, wie man sich es nur wünschen kann. Aber auch eines, dem man gerne auf einer riesengroßen Leinwand erstmalig begegnen würde und eines, das man danach gerne als würdevolle Edition im Schrank stehen hätte. Wollen wir mal hoffen, dass die schöne neue digitale Welt nicht eines Tages zu einem Haufen Datenmüll zerfällt.

„Die Weite der Nacht“ ist seit dem 29.05.2020 auf Amazon Prime abrufbar.

„Die Weite der Nacht“ (USA 2019) • Regie: Andrew Patterson • Darsteller: Sierra McCormick, Jake Horowitz, Gail Cronauer, Cheyenne Barton, Gregory Peyton, Mallorie Rodak

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.