20. Oktober 2022 1 Likes

„Geographies of Solitude“: Neuer Blick auf eine alte Welt

Atemberaubende Experimental-Doku

Lesezeit: 3 min.

Umweltschutz, eigentlich eine Selbstverständlichkeit, ist eins der ganz großen Streitthemen der Menschheit und wird das – gerade wenn man sich aktuell das allgegenwärtige politische wie mediale Gaslightning der Corona-Pandemie oder das altbekannte Gerangel um das Thema Atomkraft vor Augen hält – leider auch immer bleiben. Auch „Geographies of Solitude“ wird daran nichts Wesentliches ändern, aber könnte, was wahrscheinlich überoptimistisch gedacht ist, vielleicht Einwirkungen im Kleinen haben, denn die Experimental-Doku der kanadischen Filmemacherin Jacquelin Mills handelt nicht nur von der Natur, sie schafft es Natur so richtig greifbar, ökologische Zusammenhänge unmittelbar nachvollziehbar zu machen.

Mit Natur ist hier Sable Island gemeint, eine Insel im Atlantik, die zur kanadischen Provinz Nova Scotia gehört und so nahe an den transatlantischen Schiffsrouten liegt, dass sie lange Zeit als eines der gefährlichsten Hindernisse bei Segelschiff-Überquerungen des Atlantiks galt und daher auch einen Ruf als Schiffsfriedhof hat. Auf dieser Insel lebt – überwiegend alleine – Naturschützerin Zoe Lucas, die als Kunststudentin in den 1970er-Jahren erstmals Sable Island betrat und sich nicht mehr von der Insel lösen konnte. Sie studiert aber nicht nur die Population verwilderter Pferde und die Biodiversität von Sable Island, sondern sammelt zudem unfassbare Mengen an Plastikmüll für eine Langzeitstudie über die Entwicklung der Verschmutzung des Nordwestatlantiks.

Mills beobachtet die ungewöhnliche Frau bei ihren Aktivitäten, ihr Film ist dabei allerdings noch vielmehr Porträt der und gleichzeitig Liebeserklärung an die Insel. Genauso wie Lucas einst zum Teil der Insel wurde, wird der Zuschauer mit zunehmender Laufzeit zum Teil des im 16mm-Format gedrehten Films, in dessen Inneren das Herz der Insel pocht, denn das Aufeinandertreffen der beiden Frauen führte zu einer Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst. Die Filmemacherin tauchte tief in die Welt der autodidaktischen Wissenschaftlerin ein, sie experimentierte bei der Filmbelichtung und -entwicklung mit Pferdemist, Mondlicht, Algen und anderen Pflanzen, nahm die Bewegungen von Käfern und anderen Lebewesen mit speziellen Mikrofonen auf, die Resultate wurden in elektronische Musik übersetzt. Die spielerische, ungemein experimentierfreudige Herangehensweise führte nicht nur zu einem einmaligen audiovisuellen, unheimlich immersiven Erlebnis, mächtige Bilder von lyrischer Schönheit gehen Hand in Hand mit einer unglaublich vielschichtigen Tonspur, die das, was man sieht, zum wehenden, knacksenden, tropfenden, raschelnden und knisternden Leben erweckt, sondern zu einem neuen Blick auf die Natur.

Das Thema Umweltzerstörung wird dabei subtil eingeflochten. Mills lässt sich viel Zeit, erkundet erstmal, zusammen mit Lucas, neugierig die Insel, lässt den Ort atmen, experimentiert mit diversen Ausdrucksformen. Erst nach einer ganzen Weile wird auf das Einwirken der Außenwelt eingegangen, werden vorgefundene Reste von Schiffstauen, Verpackungsfolien und Luftballon Thema, wird bewusst gemacht, dass diese so einmalige, so aufregende, so faszinierende Welt, in die wir mittlerweile so versunken sind, wie die beiden Frauen, bedroht wird. Durch uns. Aber ohne Aufgeregtheit, ohne Anklage, Mills’ braucht keinen erhobenen Zeigefinger, sie vertraut auf der Kraft ihrer Bilder, Bilder von Lucas’ Müllsammlungen, Bilder eines Knäuels aus Unterseekabeln in den Dünen. Vom Mensch geschaffene Fremdkörper in einer Welt, die eigentlich auch prima ohne den Menschen auskommt.

Kein neues Statement, aber in dieser Form einzigartig.

Meisterwerk.

„Geographies of Solitude“ läuft ab dem 20.10.2022 im Kino, und das und nur das ist der richtige Ort, um diesen einzigartigen Film in seiner ganzen Pracht zu genießen.

Geographies of Solitude • Kanada 2022 • Regie: Jacquelyn Mills • Darsteller: Zoe Lucas

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.