23. Juni 2021 2 Likes

„Proxima - Die Astronautin“ - First Woman

Eva Green wird zum Weltraummenschen

Lesezeit: 5 min.

Sarah Loreau ist Astronautin bei der europäischen Weltraumorganisation ESA. Außerdem ist sie alleinerziehende Mutter einer 8-jährigen Tochter. Zwischen diesen beiden Polen oszilliert Alice Winocours neuer Film Proxima – Die Astronautin. Die französische Regisseurin zeigte bereits in Werken wie Augustine (2012) oder Maryland (2015) ein sehr feines Gespür für unaufdringliche Psychologie und unprätentiösen Realismus, und nicht zuletzt dieses Gespür macht aus Proxima ein herausragendes und ungewöhnliches Exemplar des Astronaut-in-training-Subgenres. Der Twist: Diesmal ist die Heldin, die sich für den Aufbruch ins All vorbereitet, eine Frau, die noch dazu getrennt von ihrem Mann lebt und sich um die gemeinsame Tochter kümmert. Die Eingangssequenz macht gleich unmissverständlich klar, worum es Winocour geht. In einer lakonischen Parallelmontage zeigt sie die zwei Welten, in denen sich ihre Protagonistin bewegt: auf der einen Seite das rigorose Training bei der ESA, auf der anderen das häusliche Dasein einer fürsorglichen Mutter. Den Moment, als Sarah (Eva Green) für eine einjährige Mission auf der ISS ausgewählt wird, wählt Winocour als Ausgangspunkt für eine dezidiert unheroische, aber dennoch heldenhafte Geschichte über einen im Grunde ganz alltäglichen Kampf.

Denn nun steigen die Anforderungen im Job der jungen Astronautin; die Beziehung zu Tochter Stella wird auf diverse Proben gestellt. Sarahs Ex-Partner Thomas (Lars Eidinger) ist zwar durchaus zugewandt und verständnisvoll, doch die Eltern sind buchstäblich „worlds apart“ (Sarah bereitet bei der ESA künftige Marsmissionen vor; Thomas ist als Astrophysiker schon einen Planeten weiter und beschäftigt sich mit der Venus). Sarah ist immer öfter abwesend, Thomas mit seiner neuen Rolle als Vollzeit-Vater latent überfordert. Die Konflikte, die auf dieser Ebene entstehen, zeigt Winocour ganz undramatisch und nüchtern; dass Sarah bald die Erde verlassen wird, hat nichts Spektakuläres an sich. Es ist einfach ein Job, der dieser jungen Frau alles abverlangt. Einer jungen Frau, die ihre Tochter mehr als alles andere auf der Welt liebt. Doch um ihren Job gut zu machen, muss sie nicht nur ihre Tochter, sondern auch diese Welt verlassen. Eine beinah herzzerreißende Prämisse, deren Umsetzung vor allem deswegen so gut funktioniert, weil Eva Green und die junge Zélie Boulant-Lemesle eine unfassbare Chemie erzeugen. Die Intimität sowie die emotionale Bindung zwischen Mutter und Tochter, die nicht nur in Schönwetter-Momenten, sondern vor allem in den schwierigen Phasen des langsamen Abschieds sichtbar werden, bilden das Herzstück eines Films, der zeigt, aus welchem Stoff Helden wirklich sind. Denn das ultimative Opfer, das diese Menschen bringen, ist ihre Verwandlung, ihre Transformation in „Weltraummenschen“, wie Sarah an einer Stelle des Films sagt (Winocour ist Cronenberg-Fan). Und das Schwierigste ist nicht das Abschiednehmen, sondern das Zurückkommen, wenn sie feststellen, dass das Leben auch ohne sie weiterging.

Doch vor dem Abflug kommt das Training, und auch für Sarahs knallharte Ausbildung hat Winocour nur minimales Pathos übrig. Das Filmteam erhielt die Erlaubnis, mit offizieller Akkreditierung an Originalschauplätzen bei der ESA in Köln, im russischen Trainingscamp Star City sowie am Weltraumbahnhof in Baikonur zu drehen. Die schmucklosen Konferenzräume, orange-braunen Wohnheime mit Ostblock-Charme und kacheligen Übungshallen haben kaum mehr Glamour zu bieten als Thomas‘ Plattenbauwohnung. Der fast schon dokumentarische Ansatz unterstützt in diesen Szenen den kühlen Realismus; Proxima ist auch ein im besten Sinne authentisches Kitchensink-Drama, aber mit Raketen. Winocour scheut dabei nicht davor zurück, die Welt der Astronauten als tendenziell chauvinistischen Boys‘ Club zu zeigen. Sarah muss sich zu Anfang vor allem gegen die Machosprüche von Missionsleiter Mike (Matt Dillon) zur Wehr setzen. Dass sie immer wieder zu spät zum Training kommt oder emotional angeschlagen ist, weil sie Job und Familie irgendwie unter einen Helm bringen muss, macht es nicht leichter. Dennoch zielt die Regisseurin auch hier nicht auf billige Konflikte und eine einfache Rollenverteilung ab; Mike ist kein Hollywood-Villain, es geht Winocour vielmehr um die nüchterne Darstellung eines strukturellen Sexismus, der natürlich auch vor der scheinbar aufgeklärten Welt der Wissenschaft und Forschung an vorderster Front nicht Halt macht. Gleichzeitig hat sie maximale Sympathie für ihre Heldin, die immer wieder Entscheidungen trifft, welche ihr das Leben in Star City zusätzlich erschweren. Doch all diese Entscheidungen entsprechen der emotionalen Logik, mit der sie ihre Protagonistin zeichnet. Als Zuschauer mag man einige Handlungen durchaus infrage stellen, doch weil Sarah und Stella als Figuren so gut funktionieren, geht man gern mit auf diese gefühlvolle Reise.

Proxima wird derzeit gern als feministische Science-Fiction bezeichnet und vor allem mit der Netflix-Serie Away verglichen, in der sich Hilary Swank als Astronautin auf eine Mars-Mission begibt. Das passendere Gegenstück bildet jedoch Damien Chazelles fantastisches Neil-Armstrong-Biopic First Man von 2018; auch Chazelle beschränkt sich nicht auf die Darstellung der mühevollen Vorbereitung auf den Space-Trip, sondern zeigt die privaten Verwerfungen, die sich daraus ergeben, in aller Deutlichkeit. Doch wo sein Neil Armstrong emotional distanziert bleibt, sich auch zu Hause wie der kühle Rationalist gibt, der er ist, und erst auf dem Mond, Hunderttausende Kilometer entfernt von zu Hause, zu einem intimen Moment privater Kontemplation fähig ist, hat Sarah Loreau mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. Und geht dabei ihren eigenen Weg; bei ihrer Verwandlung zum Weltraummenschen bleibt sie Frau (sie entscheidet sich bewusst dafür, weiter ihre Periode zu bekommen) und Mutter. Winocour sagte in einem Interview, dass sie ihre Protagonistin nicht als Mater Dolorosa zeigen wollte. Vielmehr ging es ihr um die realistische Darstellung im Grunde ganz normaler Probleme, wie sie Millionen von Müttern auf der ganzen Welt täglich stemmen müssen. Diese Mutter muss jedoch für ihren Job den Planeten verlassen, eine körperliche Transformation vollziehen. Und je weiter sie sich gedanklich und körperlich von der Erde entfernt, umso emotional näher kommt sie ihrer Tochter. Dass sie dabei immer wieder Grenzen überwinden muss, denen ihre männlichen Kollegen in dieser Form nicht ausgesetzt sind, macht Proxima tatsächlich zu einem feministischen Film, jedoch ohne explizit politische Agenda. Und spätestens, wenn Stella am Ende nach dem Raketenstart die Wildpferde in der Steppe von Kasachstan betrachtet und mit einem schüchternen Blick zum Himmel ihrer Mutter einen wortlosen Gruß mit auf den Weg gibt, wird klar, worum es hier eigentlich geht: Liebe.

„Proxima - Die Astronautin“ startet am 24. Juni im Kino. Abb.: Koch Films.

Proxima - Die Astronautin • F/D 2019 • Regie: Alice Winocour • Eva Green, Zélie Boulant-Lemesle, Matt Dillon, Sandra Hüller, Lars Eidinger, Nancy Tate, Marc Fisher

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