7. März 2019 2 Likes

„Alleine schwach, gemeinsam ungemein stärker!“

„Anthem“: BioWares Shared-World-Shooter mit Spaß- und Bug-Garantie

Lesezeit: 6 min.

Etwas Gutes hat es, später mit den Besprechungen dran zu sein, als viele der internationalen Kollegen. Denn so stellt sich heraus, dass BioWares neuester Experimentierkasten „Anthem“ doch deutlich besser ist als er in der internationalen Presse davonkommt. Viele Schwächen weist der Shared-World-MMO-Shooter aber dennoch auf.

Nach dem durchwachsenen Start von „Mass Effect: Andromeda“ wurden Stimmen laut, die BioWares Untergang prophezeiten. Schnell wurde der Fokus jedoch drauf gelenkt, dass es sich bei „Andromeda“ um die Arbeit von BioWare Montreal handelt, somit also dem B-Team. Das Kernteam von BioWare arbeitete unter anderem seit einigen Jahren an „Anthem“, das BioWare in neue Gefilde bringen soll. Ganz ähnlich wie „Destiny“ handelt es sich bei „Anthem“ um einen Shared-World-MMO-Shooter, bei dem man gemeinsam mit Freunden oder dem Online-Pöbel in die dschungelartigen Sci-Fi-Welten Bastions eintauchen kann. Es erwarten den Spieler jede Menge Loot in Form von Ausrüstungsgegenständen, Fähigkeiten und neuen Waffen, die vom Spieler mit Hilfe des Javelins, eines mobilen Kampfanzugs ähnlich der Iron Man-Rüstungen, gegen Feindesgruppierungen und den Obermotz, Monitor genannt, in die Schlacht geführt werden.

Gerade von Story-Powerhouse BioWare sollte man eigentlich deutlich mehr gewohnt sein, wenn es um herausragende Figuren geht und es eine mitreißende Geschichte zu erzählen gibt. Denn die relativ belanglose Story um das titelgebende Anthem, die Javelins und das imperialistische Dominion und den Monitor ist stellenweise so konfus wie uninteressant. Auch die etlichen NPCs, mit denen man sich in der Hauptstadt Fort Tarsis zwischen Missionen und Beutezügen unterhalten kann, wirken größtenteils wie aus dem Förmchen. Alle sind schnippisch, „witzig“ und keck – denn die Marvelfilme im Kino zeigen aktuell, dass so etwas funktioniert und am besten jeder Charakter so sein soll. Das ist eindeutig zu viel des Guten. Einzig ein, zwei kleinere Wendungen in der Geschichte wecken das Interesse an den Figuren, während das daraus erwachsende dramaturgische Potential komplett verschenkt wird. Das andere Problem des Konzepts ist, dass die Unterhaltungen mit und zwischen den Figuren während der Missionen im Feuergefecht komplett untergehen, während man auf seine wunderschöne Umgebung achtet oder im Blitzgewitter der bunten Explosionen schlichtweg übermannt wird. Dabei bewies BioWare einst bereits mit dem MMO „Star Wars: The Old Republic“, dass es möglich ist, MMOs mit fesselndem Narrativ und ausgezeichneten Figuren zu schaffen.


„Die Welt um Fort Tarsis ist wunderschön und bietet dem Spieler ein echtes Gefühl von Freiheit.“

Darüber hinaus plagen „Anthem“ lange Ladezeiten und eine riesige Rotte an Bugs und Glitches, gepaart mit wiederkehrenden Serverproblemen, die kaum eine Stunde ohne einen Rauswurf aus dem Onlinegetümmel vergehen lassen. Dies wird besonders ärgerlich, wenn nach getaner Arbeit die Spielerdaten plötzlich nicht synchronisiert werden können und man nach einem erledigten Stronghold (den Dungeons in „Anthem“) die Belohnung zunächst flöten geht.

Aber noch ist nicht aller Tage Abend, denn „Anthem“ brilliert bei der unglaublichen Grafik, den wahnsinnigen Effekten und spitzenmäßigem Gameplay. Wenn man sich für eine von vier spürbar unterschiedlichen Javelin-Klassen entschieden hat, gilt es, die für seinen Spielstil passenden Fähigkeiten zu finden und sich mit gewünschten Waffen auszurüsten. Allein an Waffenklassen gibt es neun, die allesamt in drei Untertypen unterteilt sind. Von den drei Shotguntypen bis hin zu Sniper- und Automatikgewehren und Granatwerfern: Jede einzelne Waffe spielt sich spürbar anders und hat Vor- und Nachteile. Hier könnten sich gar etliche „Profi“-Shooter eine Scheibe abschneiden. Ebenso divers und hilfreich sind die mannigfaltigen Fähigkeiten und Javelin-Anpassungen, die von Energieschilden bis zu wärmesuchenden Raketen reichen. Und um das Ganze abzurunden, wartet jede Javelin-Klasse mit einer „ultimativen Attacke“ auf, die sich per sichtbarer Leiste mit der Zeit füllt und ausführen lässt – auch mehrmals per Mission. Das Kampfgeschehen kann so kurzweilig und unterhaltsam sein, wie es grafisch beeindruckend ist. Wenn Combos (elementare Angriffe, die mit Hilfe von Mitspielern per Spezialfähigkeit wörtlich detoniert werden) den Bildschirm regenbogengleich erzittern lassen, oder große Mechs Feuer verspucken – „Anthems“ Kämpfe sehen immer spektakulär aus und sind dennoch nicht zu überladen, so dass man die Orientierung verlieren könnte.


„Bei „Anthem“ explodiert eigentlich immer irgendetwas farbenfroh.“

Im Gesamtpaket bietet „Anthem“ ähnliches wie seinerzeit „Destiny“ in der Ursprungsform und noch eine ganze Schippe dazu. Die Story beschäftigt über knapp 20 Stunden und nach Erreichen des Maximallevels von 30 macht man sich daran, immer seltenere Loot zu sammeln. Alle Waffen und Ausrüstungsgegenstände sind in sechs Grade unterteilt: Common, Uncommon, Rare, Epic, Masterwork und Legendary. Die letzteren beiden bieten die stärksten und „einzigartigen“ Waffen – wie seinerzeit bei der Hack‘n‘Slay-Reihe „Diablo“ –, auch sofort farblich gekennzeichnet, mit speziellen Perks und Skills, die einzig den besagten Waffen inhärent sind. Das spätere Powerlevel richtet sich dann nur noch nach dem Gesamtlevel der gesammelten Ausrüstung und nicht mehr nach dem Spielerlevel. Also exakt wie bei „Destiny“. Die im Loot begründeten Missionen folgen aber jedoch größtenteils dem Schema F, bei denen es gilt von A nach B zu reisen und Gegner zu erledigen. Hin und wieder gilt es bestimmte Stellen auf der offenen Worldmap zu verteidigen oder Relikte aufzusammeln, was sich aber gerade auf den vor Missionsbeginn frei wählbaren höheren Schwierigkeitsstufen als Fluch entpuppen kann. Wenn man „Anthem“ gemeinsam mit Freunden spielt (oder mit angenehmen Zeitgenossen per äußerst simplem und nutzerfreundlichem Matchmaking), bietet „Anthem“ wirklich gewaltigen Spielspaß und man jagt einem legendären Gegenstand nach dem anderen hinterher. Ganz getreu des Mottos der Freelancer in „Anthem“: „Alleine stark, gemeinsam stärker“. Wenn man sich aber gezwungen sieht plötzlich alleine spielen zu müssen, verpufft der Spruch, denn „Anthem“ wird zur wahren Tortur, wenn man die immensen Gegnermassen mit endlosen Lebensanzeigen alleine erledigen muss. Ob nun freiwillig alleine, oder durch sterbende oder widerwillige Teamgefährten.


„Bei den Javelins gibt es eine Vielzahl anzupassender Items, Slots und Waffen.“

Und hier eröffnet sich der kleine, gefährliche Makel im Spieldesign: „Anthem“ richtet den Spieler so häufig darauf ab, zu schießen, zu schießen und zu schießen, dass die wenigen Missionsziele, die dann durch aktives Sammeln von Relikten oder Ähnlichem zu erledigen sind, im Getümmel untergehen. So kam es bereits mehrfach dazu, dass aus einem Match, das in maximal 10 Minuten erledigt wäre, über 30 wurden, nur weil sich die Spieler um immer wiederkehrende Gegnermassen kümmerten, statt sich des eigentlichen Ziels zuzuwenden. Wenn dann auch noch einer der vier Spieler irgendwo steht, ohne am Kampf teilzunehmen und den Controller beiseite gelegt hat, ist das Chaos perfekt. Denn es gibt bislang auch noch kein Feature, um unbeliebte Spieler aus der Partie zu werfen oder gar, dass man wegen Inaktivität mit der Zeit heraus geworfen wird. Das muss sich dringend ändern.

Allerdings scheinen Publisher Electronic Arts und BioWare sehr auf die Community zu hören und es wurden bereits in der ersten Woche etliche Verbesserungen und Wünsche implementiert, so dass der gute Wille seitens der Community und von Entwicklerseite gewährleistet ist. So ein offener Umgang wird bei Bethesda und „Fallout 76“ selbst Monate später immer noch schmerzlich vermisst.


„Eine, wie diese seltene Masterwork-Waffe, erwartet euch als Belohnung nach besonders schweren Missionen im Endgame.”

„Anthem“ ist bislang am ehesten noch mit „Destiny“ in seiner ursprünglichsten Form zu vergleichen. Damals genauso bildprächtig und suchterzeugend, bot es noch recht wenig Endgame-Content und verbesserte sich über die Monate stetig. „Destiny“ ist heute kaum wiederzuerkennen, wenn man es mit dem Start vergleicht. Und da „Anthem“ sich als „Gameservice“ versteht, werden Erweiterungen und Änderungen unabdingbar sein und können viele der Schwächen ausbügeln und die vorhandenen Stärken ausbauen. Besonders im Hinblick auf den ersten angekündigten Cataclysm, der die Welt von um Fort Tarsis herum nachhaltig verändern soll. „Anthem“ macht einen Heidenspaß und ist mit Freunden umso schöner. Wenn dann die ersten orangenen Masterwork-Items oder gar gelbe, legendäre fallen, wird der Sog erzeugt, der den Spieler für etliche Stunden gefangen halten kann. Zeit, wieder in den Javelin zu steigen.

„Anthem“ ist seit dem 22. Februar 2019 für PC, XBox One und Playstation 4 erhältlich.

Anthem • BioWare • MMO-Action-RPG • PC, XBox One, Playstation 4

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