23. Februar 2016 2 Likes

Das Spiel des Lesens

Wer klingt wie George Orwell, Stanislaw Lem oder Stephen King?

Lesezeit: 3 min.

Nicht nur Autoren und Lektoren wissen: Der erste Satz und der Anfang eines Romans sind wichtig, ja geradezu magisch, am Besten wie Treibsand oder Sekundenkleber oder ein leichter Stromschlag oder ein perfekter Kuss oder alles zusammen – und ein Autor mit einem eigenen Sound und Duktus ist ein Autor mit hohem Wiedererkennungswert, über den Eingeweihte sprechen können, und oft auch Uneingeweihte. Das wiederum hat viel mit Mustererkennung zu tun, aber zugleich mit der Art und Weise, wie sich unser kollektives literarisches Gedächtnis zusammensetzt, bei Büchern und Autoren, die wir gelesen haben, und womöglich noch mehr bei Büchern und Autoren, die wir nicht selbst gelesen haben.

In „Mimikry. Das Spiel des Lesens“, das gerade als Hardcover und E-Book bei Aufbaus Blumenbar-Imprint erschienen ist, präsentieren die Herausgeber Philipp Albers und Holm Friebe vom kreativen Think Tank der Zentralen Intelligenz Agentur nun ein vergnügliches Gesellschaftsspiel, in dem sich alles um Romananfänge und die Frage nach dem absolutem Original und der unter Umständen noch authentischer klingenden Nachahmung dreht. Bei dieser Variante des Lexikonspiels sind gutes Sprachgefühl und Textverständnis genauso wichtig und entscheidend wie die Fähigkeit zur literarischen Hochstapelei. Wer erkennt und trifft den vorgegebenen bis mustergültigen Ton am Besten – und in den Ohren und Augen der anderen womöglich sogar besser als der wahre Autor?

So wird gespielt: Man trifft sich, durchstöbert die Buchregale des Gastgebers, ohne den ersten Satz oder die erste Seite der aufgetriebenen Werke zu lesen, und einigt sich pro Runde auf eine Handvoll Bücher. Der Spielleiter, der von Runde zu Runde wechselt, liest den Klappentext und ein paar Passagen aus dem ersten Buch vor, bis alle Teilnehmer ein Gefühl für den Sound des Romans und des Autors haben. Dann erst liest der Spielleiter den ersten Satz vor. Die Mitspieler notieren diesen – und müssen fünf bis zehn eigene Sätze hinzufügen, die dem Stil und Sound des Autors und Buches möglichst nahe kommen und als perfekter erster Satz und Anfang des betreffenden Werkes durchgehen könnten. Der Spielleiter schreibt derweil das Original nieder. Anschließend werden alle Beiträge durchnummeriert, in einen Pott geworfen und vom Spielleiter neutral vorgelesen. Per Handzeichen gibt man dem Text, den man für das Original hält, seine Stimme. Wer das tatsächliche Original errät, kriegt einen Punkt, wessen Plagiat als Original betrachtet wird, ebenfalls. Wird das Original nicht erraten, punktet der Spielleiter. Und so geht das munter Runde für Runde weiter …

In „Mimikry. Das Spiel des Lesens“ werden neunzehn Spielabende dokumentiert, die mithilfe guter, altmodischer Buchsammlungen bestückt und mithilfe der Sozialen Netzwerke organisiert wurden. Zu den nachgeahmten Autoren zählen George Orwell, Stanislaw Lem, Oscar Wilde, Karl May, Kinky Friedman, Jack Kerouac, Mike Tyson, Rainer Maria Rilke, Günter Grass, Stephen King, Jane Austen, Astrid Lindgren, James Joyce, Truman Capote, Dave Eggers, Westbam und Franz Kafka. Was für eine literarische Orgie! Und obendrein Grundlage eines ausgesprochen interaktiven Buches, das sich natürlich bestens zum Mitraten und Nachahmen eignet. Im Anhang warten noch Kurzbiografien und Fotos der literarischen Hochstapler, die diesen anregenden Band mit Fälschungen füllten, und eine Bibliografie der bespielten Bücher. Hier gibt es indes eine Leseprobe mit dem erhellenden Vorwort der Herausgeber, der gut gemachten Spielanleitung und der kompletten ersten Runde (u. a. mit Stanislaw Lems „Albatros“) als Beispiel.

Dieser angetane Rater überlegt jetzt, wie er der nicht vorhandenen, aber musterhaften Katze beibringen soll, dass er zwar Orwell sofort erkannt hat, jedoch nicht den Kinkster.

Philipp Albers & Holm Friebe (Hrsg.): Mimikry. Das Spiel des Lesens • Aufbau/Blumenbar, Berlin 2016 • 400 Seiten • Hardcover: 24,00 Euro

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