Du bist Big Brother!
Das erdrückend realitätsnahe „Orwell“ lässt uns zum Social-Profiler werden
Daten sammeln, Profile anlegen, Menschen beobachten und die Ergebnisse unter bestimmten Rastern auswerten - nicht nur für Kritiker allgegenwärtiger Überwachungsstaaten und (neo-)kapitalistischer Gesellschaftsstrukturen ist George Orwells dystopischer Entwurf aus 1984 längst (Teil-)Realität geworden und mithilfe des Internets allgegenwärtig. Dazu gehört trotz aller Probleme so mancher Netzkulturen die natürlich längst zur Normalität gewordene Möglichkeit eines jeden Einzelnen, selbst online nach Datensätzen und Informationen über sich oder andere zu suchen. Was in den allermeisten Fällen ohne jede Konsequenz abläuft, wird nun von Osmotic Studios, den Machern des zunächst vielleicht etwas kryptisch klingenden PC-Adventures Orwell, auf die Spitze getrieben, das bereits seit Ende letzten Jahres erhältlich ist. Um es gleich vorweg zu nehmen: Herausgekommen ist ein erdrückend realistisches, in seinen Konsequenzen extrem kritisches Erlebnis, das auf clevere Art viele virulente Fragen unseres Umgangs mit Daten im Netz behandelt.
Ausgangspunkt von Orwell ist die fiktive Stadt Parge, die als Metropole der in mehrfacher Hinsicht bewusst etwas plakativ gehaltenen Spielwelt The Nation mit einem umfangreichen Überwachungssystem ausgestattet wurde. Von der Regierung legitimiert, stellt Orwell dieses System zunächst als „Sicherheits-Vergnügen“ vor, ehe ein Bombenanschlag auf der Freedom Plaza jede Freude an der schönen neuen Technik beiseite wischt. Nun aktiviert sich nämlich das titelgebende Programm namens Orwell und uns fällt die Rolle eines Profilers zu, der mithilfe dieses Systems Informationen sammeln soll, die im besten Falle zur Ergreifung der Täter führen. Für das Gameplay bedeutet das konkret, dass wir wie bei jedem anderen echten Rechner vor einer virtuellen Benutzeroberfläche sitzen und uns durch das Netz arbeiten, ohne etwa mit einer Avatarfigur selbst in den Straßen von Parge Nachforschungen anzustellen. Unsere Spielwelt ist das Netz; doch der Begriff Spiel hat sich im Sinne einer naiven Anwendung schnell erledigt, da unsere uneingeschränkte Spionage für die betroffenen Personen in Orwell Konsequenzen nach sich zieht, die nicht zwangsläufig auf die Ergreifung der echten Terroristen hinauslaufen.
Der Aufbau des Orwell-Programms fällt dabei recht übersichtlich aus und ist in drei Basiskategorien unterteilt: Reader (Leser), Listener (Zuhörer) sowie Insider (Eingeweihter). Der Reader funktioniert wie ein speziell aufgemotzter Browser, während wir im Listener beispielsweise Telefonate verfolgen und mit dem Insider auf den Desktop direkt auf die Zielpersonen und deren Daten zugreifen können. Dazu gesellt sich eine eingeschränkte Sicht auf das gesamte Programm, da wir als Gamer auch nie mehr sehen, als es unsere Repräsentationsinstanz innerhalb der Spielwelt könnte. Ein kleines Detail, das unsere Bindung an die Thematik des Games gut unterstricht.
Als Profiler suchen wir nun nach Informationen über Personen und mögliche Gefahrenquellen, die wir dann an unseren Kollegen Symes weiterleiten, damit dieser sie verarbeiten und weitere Schritte bishin zum zum Polizeieinsatz einleiten kann. Der Grad unserer Verantwortung fällt dementsprechend sehr hoch aus: Denn Symes reagiert nur auf das, was wir ihm übermitteln und stellt selbst keine Recherchen oder kritische Analysen an und verlässt sich somit auf unsere Perspektive inklusive Auswahl. Wenn wir uns durch Chats, Zeitungsartikel, Sendungen, Webseiten, Blogeinträge oder auch natürlich dezidiert nicht öffentliche Informationen wie Patientenberichte wühlen, stoßen wir immer wieder auf Widersprüche und Ungereimtheiten, die sich nicht zu einem einheitlichen Gesamtbild zusammensetzen lassen. Das hat zur Folge, dass wir oft schlicht unserem Instinkt vertrauen müssen, ob wir der einen Information den Vorzug vor einer anderen geben und damit möglicherweise völlig falsch liegen. Ein objektiver Faktencheck bleibt blanke Theorie.
Da ausschließlich wir aufgrund unserer umfangreicheren Recherche auch größere Zusammenhänge erkennen und in Kontexte einordnen können, fallen Symes Kommentare zu unserer Arbeit nicht immer passend aus. Doch das ist mit Rücksicht auf seine eingeschränkte Sicht auf die Dinge nur konsequernt und betont stimmig das Problem einer jeden Analyse, die konstitutiv an eine Auswertung verschiedenster Faktoren mit einer potenziellen Fehleranfälligkeit gekoppelt ist. Die Datenmenge nimmt bei der Vielzahl an überwachten Personen nämlich recht schnell eine Dimension an, die genau diese Anfälligkeit auch provoziert und uns mit einem Gefühl der Überforderung konfrontiert. Sind wir an der richtigen Person dran? Interessieren wir uns für sie vielleicht einfach nur so? Sammeln wir zunehmend nur noch aus Lust an unserer Macht, selbst Telefongespräche abhören und mit unserer Bewertung das Leben anderer Menschen zu beeinflussen? Diese und viele weitere Fragen nehmen schnell Überhand und machen aus uns eine Datenkrake, die sicher auch in mehrfachen Durchläufen ihre Fangarme auswirft.
Fazit
Orwell zeigt uns neben den Tücken des Überwachungsstaates und den Fallstricken jeder Sicherheitspolitik vor allem, dass es bei jeder Datenauswertung im Big Data-Zeitalter noch subjektive Faktoren gibt, die Fehleinschätzung zulassen und somit auch Unschuldige treffen. Zwar vermeiden es die Entwickler von Osmotic Studios sehr geschickt, ihren Titel als plumpes Anti-Beispiel gegen jede Form der Sicherheitspolitik in Stellung zu bringen. Doch als Profiler, der sich selbst in der Rolle des Beobachters bezüglich seiner eigenen Motivationen, Einschätzungen und Auswahlkriterien hinterfragen darf, dürfen wir mit Orwell ein Social-Adventure erleben, wie es klüger kaum hätte ausfallen können. Darüber hinaus zeigt das Game konsequent auf, wie Computerspiel-Mechaniken in Verbindung mit einem stimmigen Design und inklusive einer kritisch motivierenden Thematik bestens geeignet sind, selbst heikle Themen innerhalb ihres „spielerischen“ Grundansatzes zu verhandeln. Orwell zu spielen, bedeutet nicht nur eine kritische Social-Simulation zu durchleben, sondern vor allem sich selbst dabei zu beobachten, wie man dieses Game vor dem Hintergrund seiner dystopischen Thematik konkret angeht. Letzten Endes profilern wir uns mit Orwell schließlich selbst. Ob wir wollen oder nicht.
Orwell • Osmotic Studios • Social-Adventure
Abb. © Osmotic Studios
Kommentare
Klingt interessant - und das selbst für mich als Nicht-Gamer. Vielleicht probiere ich das mal aus.
Blick lohnt sich definitiv.