16. März 2022 2 Likes

„Horizon Forbidden West“: Unbefleckte Maschinengeburt

Atemberaubend schön, spielerisch fordend und ein Heidenspaß

Lesezeit: 6 min.

Manchmal ist es ein unerwarteter Segen, später dran zu sein als die anderen. Während FromSoftwares Brachial-RPG „Elden Ring“ die ganze Welt in Atem hält, scheint ein strahlendes Juwel blitzartig in Vergessenheit geraten zu sein, überschattet vom Riesen aus Fernost. Aber warum daraus nicht eine Tugend machen? Wie eine Lady, die zu späterer Stunde bei der Party auftaucht, deren Gesellschaft man aber niemals missen wollen würde, auch wenn man es zuvor vielleicht nicht ahnt. Und natürlich ist hier die Rede von Guerrilla Games’ und Playstations „Horizon Forbidden West“, das seit dem 18. Februar 2022 für Playstation 4 und Playstation 5 erhältlich ist.

Die postapokalyptische Welt um die fast in der Zeit zurückgeworfen scheinende Maschinenjägerin Aloy hat sich ein Stück gewandelt seit unserem letzten Besuch in „Horizon Zero Dawn“. Die von den Maschinen ausgehende tödliche Fäulnis greift immer noch in die Natur ein und die korrupte künstliche Intelligenz Hades ist immer noch auf freiem Fuß. Aloy und Hades befinden sich beide auf dem Weg gen Westen, vom ehemaligen Utah, über Nevada bis an die Westküste Kaliforniens. Und dazwischen stellen sich Aloy nicht nur neue Roboter-Dinosaurier, sondern auch gleich eine Vielzahl unbekannter wilder Stämme von Menschen, alte Verbündete und Feinde, und eine gänzlich überraschende Gefahr in den Weg, mit der wohl niemand gerechnet hat.

Die Geschichte um die taffe Heldin Aloy, ihren undurchsichtigen Mentor/Gegenspieler Sylens und eine immer noch bevorstehende Apokalypse, bietet neben der nach wie vor begeisternden Aloy, die zurecht eine von Sonys Ikonen geworden ist, erneut etliche herausragende Ideen und fühlt sich wie eine organische Fortführung des herausragenden „Horizon Zero Dawn“ an. Allerdings droht hier und da die Geschichte auch, unter dem eigenen Gewicht zusammenzubrechen. So werden eine immense Zahl an neuen Figuren eingeführt, die beinahe allesamt von Anbeginn großes Interesse wecken wie die Tenakth-Stammesführerin Regalla, die sich von den großen Stämmen lossagt und plötzlich wie Aloy die Fähigkeit besitzt, Maschinenwesen zu bekehren.


„Areale sind jetzt noch weitläufiger – aber dennoch vollgestopft an jeder Ecke mit Sehenswürdigkeiten.“

Auch die großen Widersacher von „Forbidden West“ sind eine ungeahnte Truhe voller gewaltiger Ideen – die aber leider nicht genug ausgeschöpft wird. Figuren wie Sylens, Regalla oder die anderen Widersacher haben zwar in der Geschichte ihren Platz, mit denen aber insgesamt leider viel zu wenig – oder zu spät in der gut 25-stündigen Hauptstory – angefangen wird. Gerade Regalla ist ein perfektes Beispiel dafür, denn die faszinierende Gegenspielerin wird früh eingeführt, taucht dann aber für gute 15 Stunden gar nicht auf bis kurz vor dem Finale. Sylens und anderen Figuren ergeht es ähnlich, was schlichtweg vertane Chancen auf ergiebigem Boden sind. Dabei wird dann viel Zeit mit anderen, nach und nach eingeführten Figuren verbracht, die aber größtenteils blass und völlig belanglos bleiben, auch wenn Guerrilla Games versucht, einen Kreis eingeschworener Verbündeter um Aloy aufzubauen – woran eigentlich gedanklich nichts auszusetzen ist, wären alle anderen Figuren nicht bloß so viel interessanter. Dabei sei aber gesagt, dass die Story im verbotenen Westen trotz allem ein mitreißendes, wohl verflochtenes Garn ist, das besonders mit den Interaktionen der Welt und in den Nebenaufgaben glänzt.

Wo wir beim eigentlichen Star des Ganzen wären: Die Welt von „Horizon Forbidden West“ gehört nicht nur zu den schönsten und lebendigsten Vertretern des Genres – sondern auch zu den besten. Man braucht auf einem Reittier nur eine Minute, um von einer staubigen Wüste in eisige Höhen zu kommen, oder in tropischen Wäldern und üppig grünen Flüssen und Seen zu plantschen. An jeder Ecke gibt es neue Maschinenwesen, antike Ruinen unserer Moderne, und Brutstätten von Robotern zu entdecken, oder gar die hier ihren Einstand feiernden Unterwasserwelten zu erforschen, auf Türme und Berge zu klettern oder neue Stämme, Siedlungen und Kampfarenen zu entdecken. Dabei bietet auch die Welt noch im Detail eine ausufernde Vielzahl an Möglichkeiten, die Zeit zu vertreiben mit einem Battle-Chess-artigen Minispiel, genannt Machine Strike, Maschinenrennen, wiederkehrende Jagdgründe, Arena-Kämpfe und und und. Dabei gibt es aber nicht bloß an jeder Ecke etwas zu entdecken – die Entdeckungen sind tatsächlich zu etwas nütze!


„Alles, was man in der wunderschönen Welt sieht, ist erreich-, erkletter- und besteigbar.“

So schaltet man für weitere Jagd- und Arena-Medaillen die stärksten legendären Waffen frei, in Ruinen finden sich besonders wertvolle Gegenstände und vieles mehr. Alle Collectibles belohnen einen meist zusätzlich mit weiteren Besonderheiten, wenn man mehrere oder gar alle einer Sorte gefunden hat. Und darüber hinaus ergattert man mit allem zusätzlich Erfahrungspunkte für das eigene Charakterlevel (das bis 50 hinaufgeht), wird stärker und schaltet Skillpunkte frei für die ganzen sechs neuen Fähigkeitsbäume, die noch einmal ein eigenes Labyrinth für sich darstellen. Und wo man mit der Hauptstory manchmal etwas Nachsicht haben sollte, trumpft das Nebenquest-Design vollends auf. Die Tätigkeiten von „Forbidden West“ gehören mitunter zu den besten, die moderne RPGs zu bieten haben. Viele Nebenquests sind ausgezeichnet geschriebene, kleine Geschichten voller Herz, gar unerwarteter Wendungen – und lassen die üppige Welt noch lebendiger und verwobener wirken. So wirken sich einige der skurrilen Sidequests auch auf die Hauptstory und den Umgang mit der Hauptfigur Aloy aus, die von dramatisch bis herzerwärmend reichen und häufig mitten in der Wildnis beginnen. So findet Aloy plötzlich einen Stammessoldaten in der kargen Landschaft vor, der einen anderen meckernden Krieger durch die Gegend schleift… Unbezahlbar.


„Die Kämpfe gegen Maschinenwesen sind erneut ein Highlight – aber auch deutlich taktischer und fordernder.“

„Horizon Forbidden West“ bietet schlichtweg mehr von allem, was „Zero Dawn“ bereits so gut gemacht hat. Mehr Erforschung, mehr Skills, mehr Maschinen, mehr, mehr, mehr – zuweilen gar von allem etwas zu viel, dass man gar die Übersicht verlieren kann. Gerade wenn es um die freischaltbaren Skills geht, wird es etliche Fähigkeiten geben, die Spieler in einem ganzen Spieldurchlauf niemals auch nur zu Gesicht bekommen werden, weil es einfach so viele sind. Der positive Nebeneffekt – oder vermutlich gar die löbliche Absicht dahinter – ist aber natürlich, dass es für jeden Spielertypen die eigene, richtige Herangehensweise gibt, egal ob man eher der Stealth-, Nahkampf-, Bogenschützen-, Fallenleger- oder Maschinenbekehrer-Typ ist. Die Welt und das Skillsystem sind ein Sammelsurium unausgetretener Pfade, die allesamt zum Sieg führen – wie es eine vernünftige Open World in einem Rollenspiel nun mal bieten sollte.

Das größte Highlight zum Schluss sind aber nach wie vor das bereits fabelhafte, schweißtreibende Kampfsystem „Forbidden Wests“, das dank der gigantischen Fertigkeitsbäume für jeden etwas bietet. Egal ob man sich einem kleinen Sucher oder den gigantischen Mamut-Bebezahn-Maschinen gegenüber sieht: Wenn man unbedacht drauflos stürmt, könnte jede Jagd die letzte sein, und jedes Scharmützel gleicht einem Schachspiel. So ist es in „Forbidden West“ noch wichtiger, die Schwächen der Maschinentypen und die spezifischen Schwachpunkte zu kennen. Wenn man nicht systematisch die häufig auch wertvollen Einzelteile der Wesen, wie Energiekupplungen, Raketenwerfer, Radarantennen oder Schwanzspitzen abschießt, kann aus einem sekündlichen Kampf ein minutenlanges Ringen werden. Mit wachsendem Wissensschatz, besseren Waffen, Skills und Ausrüstung, wächst aber auch der Mut und die Spannung, denn jeder Kampf bleibt meist Stunden danach noch im Kopf, während man sich überlegt, wie man es beim nächsten Aufeinandertreffen mit einem Schlängelzahn, der aus vielen Trailern bekannten Riesenschlange, besser machen kann.


„Sechs Fertigkeitsbäume warten darauf, genutzt zu werden.“

Eine Open World muss nicht gewaltig sein, um immensen Spaß zu bieten, sondern lieber an allen Ecken und Enden vollgestopft sein mit sinnvollen, spielerischen Erweiterungen. Und trotz der deutlich größeren Welt zum Vorgänger, bietet „Horizon Forbidden West“ genau das. Niemandem wird „Forbidden West“ plötzlich gefallen, wenn man bereits mit „Zero Dawn“ nicht zurechtkam. Dafür bietet es interessierten Neulingen und Veteranen jedoch eine der üppigsten, schönsten und spielerisch abwechslungsreichsten Open Worlds des modernen Gamings, die selbst nach Dutzenden Stunden nicht langweilt – und überflügelt viele der Genre-Riesen gar zurecht.

Horizon Forbidden West • Guerrilla Games • Action-Adventure/RPG • PS4/PS5

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