24. Oktober 2017

But I won't cry for yesterday

Bethesdas mitreißende Horror-Ballade „The Evil Within 2“

Lesezeit: 9 min.

Es gibt sie noch, diese kleinen Überraschungen. Selbst dann, wenn man es mit einem hochgradig auf Massentauglichkeit getrimmten Großprojekt wie dem zweiten Teil von Resident Evil-Mastermind Shinji Mikami initiierten The Evil Within zu tun hat, der am 13. Oktober für PS4, Xbox One und PC erschienen ist. Und die Erkenntnis, die sich daraus ergibt, ist alles andere als trivial, obwohl sie zunächst so klingen mag. Auf den Punkt gebracht: Ein emotional bewegenderes Abenteuer hat die Game-Welt trotz grandioser Genreklassiker wie Silent Hill 2 mit seinem bitter traurigem Ehetwist noch nicht gesehen.

Bethesda gelingt mit Teil 2 des ohnehin grandiosen Vorgängers, eine über 15 Stunden spannende Geschichte aufzuspannen, deren Storybögen selbst dann in uns arbeiten, wenn wir uns extremen Splattereffekten oder einer sich abrupt verändernden Settingsituation voller grausiger Gefahren und frisch aufgefahrener Mechaniken ausgesetzt sehen. So etwas hat selbst die zweite Genregroßtat in diesem Jahr, nämlich Resident Evil: Biohazard, so nicht hinbekommen (aber wahrscheinlich auch nicht ganz so gewollt). Damit gelingt dem Titel auch zusätzlich das nicht gerade einfache Kunststück, sich vom Vorgänger abzuheben, sogar einige serienintern neue Wege einzuschlagen und die verstörende Heldenreise von Hauptfigur Seabastian Castellanos dabei auch noch zu einem befriedigendem (vorläufigen?) Endpunkt zu führen.

Aber der Reihe nach: Storytechnisch setzt die Fortsetzung einige Jahre nach den Ereignissen des Erstlings an. Dort sorgte ein außer Kontrolle geratenes Großexperiment um ein Gerät namens Stem für Probleme. Der Stem ist als Apparatur in der Lage, eine gigantische Psychomatrix als alternative wie manipulierbare Traumrealität abseits der echten Welt zu schaffen, in der Menschen psychisch eintauchen können. In seiner Funktion als Cop wurde Sebastian Castellanos zusammen mit seiner Partnerin Kidman ohne es zu wissen in den Stem gezogen und musste dort nicht nur zahlreichen Ungeheuern entkommen, sondern sich eigenen Ängsten stellen. Mittels geschickt gesetztem Mindfuck-Moment blieb selbst nach Abschluss nicht ganz klar, ob sich der Stem und damit in bester Weltverschwörungsmanier nicht auch die Macht des ihn kontrollierenden Mobius-Konzerns in der realen Welt weiter ausgebreitet hat, als es den vorläufien Anschein hatte.

Teil 2 entfernt sich ein Stück weit von dieser narrativen Ausgangslage und dringt tiefer in die familiäre Tragödie Sebastians ein, der an den Folgen der Eben skizzierten Vorgänge zerbrach. Sebastian, mittlerweile aus dem aktiven Polizeidienst ausgeschieden und sich vor Kummer im Alkohol selbstbemitleidend, begibt sich in der Kampagne auf die Suche nach seiner kleinen Tochter Lily, die von Mobius verschleppt und zu grausamen Psychoexperimenten zur Verbesserung des Stem missbraucht wird. Der Clou dabei: Sebastian dachte, seine Tochter wäre bei einem Feuer umgekommen und er hätte sie nicht retten können. Auch Sebastians Frau Myra ist in die Ereignisse von The Evil Within 2 stark involviert, nachdem sie Sebastian zuvor verließ, um selbst nach ihrer Tochter zu suchen, da ihr Sebastian infolge einer Psychotherapie nicht glauben wollte, dass es sich beim Tod von Lily um eine von Mobius geschickt inszenierte Entführungssituation handelte. 

Um Lily zu retten, muss sich Sebastian fieserweise mit Mobius verbinden und wieder in den Stem zurück, obwohl er seinen vermeintlichen Verbündeten natürlich nicht trauen kann. Dort treffen wir umgehend auf einen verrückten Künstler, der seine bizarren Morde zur eigenen narzisstischen Kunstinstallation ausgestaltet, oder einen charismatischen Priester, der seine Schäfchen mit ihren Schuldgefühlen auf grausame Art zu kontriollieren sucht. Erzählerisch baut The Evil Within 2 geschickt darauf auf, einen Antagonisten nach dem anderen zunächst als größte Gefahr für Lily zu inszenieren, um ihn dann doch nur als Vorbote einer noch gefährlicheren zu demaskieren, die uns bisher noch nicht in offenbart wurde. 

Doch wie genau die Puzzleteile der Story ineinandergreifen, erfahren wir erst zum Finale. Auch Sebastian bleibt analog zu uns sehr lange über die tatsächlichen Motive fast aller Akteure rund um Mobius im Unklaren und darf sich somit sowohl auf einige - wenn auch nicht immer formvollendet elegant transportierte - Überraschungsmomente gefasst machen. Bekannte Figuren wie Sebastians Kollegin Kidman, die sich bereits zuvor als Doppelagentin von Mobius herausstellte, spielen ebenfalls wieder eine entscheidende Rolle in der hauptsächlich von stimmungsvollen Cut-Scenes und zahlreichen Ingame-Dialogen vorangetriebenen Story. 

Die Kampagne unterteilt sich in mehrere Kapitel, die uns vor allem in die virtuelle Stadt Union führen, das als Modell einer typischen US-Kleinstadt fungiert. Dort bewegen wir uns nach einem gelungenen Prolog durch die Straßen der angenehm offenen, jedoch dramaturgisch nie unfokussierten Spielwelt. Hier liegt einer der größten Unterschiede zum Erstling, denn wir dürfen nun auch abseits der Haupthandlung in vielen Häusern auf Beutezug gehen und sogar ein paar wenige waschechte Nebenmissionen annehmen, um uns weitere Waffen, Extras oder im Fall einiger alternativer, besonders beängstigender Alptraum-Sequenzen inklusive Flucht vor einer mysteriösen weiblichen Geistergestalt zusätzliche Storyeinblicke zu sichern. 

Die Gegnervielfalt kann sich dabei wirklich sehen lassen, da sich im Verlauf des Games immer neue Angreifer an unsere Fersen heften und sich so speziell zum Ende hin ein bunter Reigen an flink kriechenden, besonders wuchtigen oder sogar sich selbst entzündenden Gegnern bereitsteht, um uns bei knapper Munition und wenig Schutz im Falle des Entdecktwerdens den Hintern heiß zu machen. Deshalb müssen wir immer genau abwägen, welche Ressourcen wir wie entbehren können und ob wir bestimmte Situationen nicht lieber einfach vermeiden sollten.

Gerade in Momenten, in denen Umgehen keine Option ist und wir beispielsweise vor aggressiven Bossgegnern durch kleinere Labyrinthe ein perfides Katz-und-Maus-Spiel überstehen müssen, steigt das Adrenalin gehörig nach oben und der Titel beweist nachhaltig, dass er trotz des offenen Gameplay-Ansatzes aufgrund der fliegenden - optimal aufeinander abgestimmten - Wechsel der unterschiedlichen Spielstile als nervenaufreibender Survival-Horror gut funktioniert. 

Über einzelne in Union versteckte Terminals reisen wir zwischen Stadtteilen hin- und her und finden vor allem bei einigen von Mobius bereits in den Stem geschickten Soldaten Unterschlupf und Speichermöglichkeit. Zu den angenehmsten Facetten des Gameplays zählt das gelungene Crafting- und Waffensystem. Mit gewonnenen Erfahrungspunkten dürfen wir wie im Vorgänger verschiedene Skilltrees weiter ausbauen und unsere Waffen zwischen Armbrust, Sniper, Schrotgewehr, MP und einfachem Revolver üppig aufmotzen.

Ebenfalls grandios dabei: Es gibt ein Wiedersehen mit der aus Teil 1 bekannten Krankenschwester, die uns in unserem eigenen Psycho-Rückzugsraum erneut begegnet, wenn wir unsere Fähigkeiten erweitern oder sogar diesmal erstmals Waffenteile an einem Schießstand via kurzweiligem Minispiel gewinnen können. Eine lakonischere, in ihrer ganzen Erscheinung ambivalentere Nebenfigur als Sebastians mentale Manifestation einer offensiv klischeehaften, gleichzeitig jedoch äußerst scharfzüngigen Krankenschwester, kann es kaum geben - einfach herrlich!

Das grundsätzliche Gameplay folgt des Gesetzen des Action-Adventures mit Third-Person-Perspektive. Mit Sebastian als einzigem spielbaren Charakter (bis auf ganz wenige Situationen gegen Ende) schleichen, schießen, schlagen und rätseln wir uns durch Union und dessen fast vollständig dämonisierter Bevölkerung. Die Steuerung geht flüssig von der Hand und selbst Anfänger werden sich gerade auf den niedrigeren Schwierigkeitsgraden inklusive massiv erhöhter Item-Dichte überall relativ locker durch das Abenteuer gruseln können.

Die wenigen Schalter- und Schieberätsel hätten zwar gerne ein wenig cleverer ausfallen können, doch andererseits sind ohnehin den meisten Spielern Rätsel eh nur ein Klotz am Gamepad-Finger, wenn sie zu komplex und damit potenziell frustrierend angelegt sind. Wer es heftiger mag, darf ohnehin auf einen höheren Schwierigkeitsgrad wechseln, wobei ein besonderer New Game Plus Modus ebenfalls mit an Bord ist.

Das Setting fällt wie bereits angedeutet sehr abwechslungsreich aus und bedient sich in Grundzügen sehr vieler beliebter Genrestandards. Wir erkunden geheime Forschungslabore, Leichenhallen, Psychiatrien, Folterkeller und Kirchen ebenso wie Abwasserkanäle, Wälder oder Berghöhlen. Da der Stem als Psychomaschine per se nicht auf logische Berechenbarkeit setzen muss, bleibt es immer spannend, was uns denn nun als nächstes Highlight begegnen wird. Wer vermisst schließlich schon Plausibilität und logische Stringenz in der Matrix? Eben. 

Technisch zeigt sich Sebastians Reise ebenfalls von einer weitgehend positiven Seite. Das Artdesign und dessen Umsetzung verdienen sich absolute Bestnoten - besonders die Licht- und Farbwahl stimmt in fast jeder Situation und erzeugt so eine unglaublich dichte Atmosphäre. Da ist es - wie bei so vielen Titeln - leicht zu verschmerzen, dass die Grafik letztlich nicht mit High-End-Perlen wie Uncharted mithalten kann. Union präsentiert sich bis in die letzten Hinterhöfe hinein sehr detailliert und selbst unschöne Ruckler oder Slowdowns bleiben aus. 

Andere Faktoren lassen da schon eher aufhorchen. Der geschickt platzierte Einsatz von Effekten sowie die famose Vertonung der professionellen wie gut eingesetzten Sprecher lassen darüber hinaus etwa ebenfalls beide Daumen nach oben schnellen. Das befördert zusätzlich die Lust, sich in der Stadt umzusehen und den Feinden mithilfe der Umgebung sogar Fallen zu stellen. Schließlich stehen nicht umsonst ganz klassisch entzündliche Ölfässer auf den Straßen oder bieten stromleitende Pfützen die verführerische Option, gleich mehrere Unholde mit einem einzigen gezielten Schuss auszuschalten. 

Was macht The Evil Within 2 aber nun wirklich zum herausragenden Horror-Erlebnis, das es verdient hätte, nicht nur verfolgreich zu sein, sondern in die Analen des Genres dauerhaft einzugehen? Es ist vor allem das Gefühl, ein grandios ausbalanciertes Game zu spielen, wie es im Survival-Horror so leider in der Vergangenheit nur selten vorkam. Ob Schleichen, Items sammeln, Craften oder offensiv Kämpfen, die Entwickler haben keine Facette vernachlässigt und jede auf das Gesamtkonzept abgestimmt.

Die locker 15 Stunden Spielzeit weisen trotz offener Spielwelt keine Längen auf und halten speziell mithilfe der Story eine angenehme Spannung aufrecht, die sich in der letzten Stunde zu einem rundum befriedigenden Finale entlädt. Sebastians Suche nach seiner Tochter nimmt gerade am Ende nochmal derart emotional an Fahrt auf und schlägt einen für Horror-Games an dieser Stelle melancholischen Ton an, der weder unpassend noch plakativ oder gar billig rüberkommen würde.

Wir fühlen mit den Figuren ihre inneren Konflikten, sehen in Sebastian und seiner Familie um ihr Leben betrogene, höchst fragile Charaktere, die in einem Horror-Game über Liebe und Vertrauen sprechen können, ohne dass man sich wie bei vielen Games fremdschämen muss. Und das in einer glaubhaften, wunderbar treibenden Inszenierung, in der aber typische Horror-Affekte wie Ekel und Suspense gleichermaßen ihren Platz einnehmen. 

Die vielleicht einzige richtige Schwäche des Titels besteht dagegen im Mangel an mehr Endgegnern, die als Zäsuren eines Abschnitts für weitere Highlight-Stimmung sorgen. Besonders ärgerlich in dem Kontext: Speziell an einer Stelle setzen die Entwickler komplett auf drei bereits im Vorgänger präsente Widersacher. Das wundert im Kontext des ansonsten so ausgefeilten Artdesigns dann doch sehr. Selbst überzeugende Bosse wie die wandelnde Kamera Obscura kommen hingegen zu selten vor und sind - streng genommen - auch nur Variationen bereits in Teil 1 (und dessen DLCs) verbratener Kontrahenten. Mit Blick auf packende Gefechte wie den allerletzten oder ein Aufeinandertreffen mit einem geradezu an die Metal Gear-Reihe erinnernden Fiesling mit Flammenwerfer, dürfen wir den Machern aber auch hierbei zumindest ansatzweise dann doch wieder Lob zollen.

Fazit

Aufatmen in Zeiten vieler dezent gescheiterter Sequels: The Evil Within 2 ist genau die Fortsetzung geworden, die gerade Freunde des Erstlings, aber auch komplette Neueinsteiger ein zufrieden durchgegruseltes Lächeln ins Gesicht zaubern dürfte. Mit seiner mitreißenden Atmosphäre, abwechslungsreichem Gameplay-Mix, emotional ansprechender Story, vielen wirklich brillanten Design-Entscheidungen und zündenden Ideen im Gepäck, ist dieses Abenteuer moderner Survival-Horror im positivsten Sinne geworden. Die Suche nach der kleinen Lily schwillt mit ihren mehrfachen Wendungen immer mehr zur handfesten Horror-Ballade an, in der Traurigkeit, Hoffnung und Frustration ebenso ihren Platz einnehmen wie Kettensägen schwingende Monster und schleimtriefende Zombies, die aus mehreren Körperteilen zusammengesetzt sind. 

Die Kombination aus offener Spielwelt und intensiver Dramaturgie geht hier bestens zusammen und motiviert mittels variabler Vorgehensweise über die gesamte Spielzeit, Union und dessen dunkelste Ecken und Geheimnisse weiter zu erkunden. Da fallen auch die wenigen Kritikpunkte einer grafisch nicht immer begeisternden (Texturen-)Performance und den zu wenigen (neuen) Endbossen nicht groß ins Gewicht. Schließlich braucht es ja immer noch ein bisschen Luft nach oben für mögliche Fortsetzungen oder DLCs.

Passend dazu haben sich die Macher beim Soundtrack für den Titletrack genialerweise für eine Version des Duran Duran Klassikers Ordinary World entschieden, der das ganze Drama um Sebastian und Co perfekt auf den Punkt bringt. Wer ohne es zu spielen wirklich wissen will, wie sich dieses Horror-Meisterwerk anfühlt, sollte sich einfach diesen Song (nochmal) anhören - What has happened to it all? Crazy someone say. Where is the life that I recognize? Gone away…Alles gesagt.

The Evil Within 2 • Bethesda Softworks • Survival-Horror

Abb. © Bethesda Softworks 

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