Lost in Melancholia
Das großartige Indie-Adventure „Night in the Woods“ im Test
Eine süße Comic-Katze, die nach dem Sinn ihres Lebens und einem Weg raus aus ihrer Schwermut sucht. Was zunächst wie eine verrückte Paradoxie irgendeines wild inszenierten YouTube-Clips klingt, ist letztlich der Kern des vielleicht erwachsensten Adventures, das seit langem erschienen ist. Denn mit Night in the Woods (für PC und PS4 erschienen) beweist das Indie-Studio Infinite Fall, wie man mithilfe eines stimmigen Kontrastes zwischen überzeichnet süßer Form und hintersinnig melancholischem Inhalt emotional, gleichzeitig intelligent und insgesamt äußerst tiefsinnig Themen wie den sozialen Verfall westlicher Kleinstädte, den Niedergang der Arbeiterschicht oder die Verlorenheit einer ganzen Generation verhandeln kann, ohne sich dabei durch den Einsatz dümmlicher Spielmechaniken selbst den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Zentrum stehen vielmehr die herrlich glaubhaften Charaktere mit ihren lebendigen Dialogen und Gedanken, die zwischen Alltag, Traum und einer Prise Mystery für gut zehn Stunden beste Adventure-Unterhaltung bereithalten.
Das Gameplay besteht daher konsequenterweise fast vollständig aus Dialogen mit einer überschaubaren Anzahl an wiederkehrenden NPCs innerhalb einer Kleinstadt, die wir mit unserer (Anti-)Heldin Mae Setting für Setting meist immer wieder besuchen. Ausschließlich englischsprachig und angereichert mit vielen Referenzen und Wortspielen, entwickelt der Titel eine ganz eigene Poesie, die sich allerdings nur mit guten Englischkenntnissen vollständig verstehen und genießen lässt.
Da auch keine Sprachausgabe vorhanden ist, sollten Leute, die nicht gerne minutenlang Sprechblasendialoge durchklicken, eher Abstand vom Kauf nehmen, denn auch der Rest des Gameplays besticht eher mit seiner extremen Überschaubarkeit: Qucktime-Reaktionstests a la Guitar Hero, simpelste Rätselchen, kleinere Entdeckungen und ein bisschen Jump & Run. Mehr gibt es über die gesamte Spielzeit nicht zu tun. All das allerdings begleitet von einem dezenten, sich den unterschiedlichlichen Gemütslagen des Games stets stimmig anpassenden (Elektro-)Soundtracks, den man gerne auch mal ohne aktiven Kontext im Hintergrund mitlaufen lassen kann.
Doch worum geht es eigentlich genau? Wir starten mit Mae Borowski, einer jungen (Katzen-)Frau, die aus zunächst nicht näher erläutertern Umständen das College geschmissen und Hals über Kopf den Rückweg in ihre Heimatstadt Possum Springs angetreten hat. Der Sprung in die große weite Welt endet für Mae wieder im Zimmer auf dem Dachboden ihrer Eltern, die sich den College-Besuch ihrer einzigen Tochter offenbar vom Mund abgespart haben. Maes Jugendfreunde schlagen sich allesamt mit lausigen Jobs durchs Leben, während sie befürchten müssen, selbst diese noch im allgemeinen Preiskampf zwischen analoger und digitaler Konsummaschinerie zu verlieren.
So arbeitet der nerdige Bär Angus tatsächlich noch in einer Videothek, während Bea, Maes engste Freundin, nach dem Tod der Mutter ihren alternden Vater zunehmend mitversorgen muss, ohne sich selbst eine Perspektive aufbauen zu können. Bezeichnenderweise hält sich das Verständnis für Maes Abbruch auch daher in Grenzen. Zumal Mae mangels Job nun ihre viele Freizeit (und den guten Willen ihrer besorgten Eltern) ausnutzt, um ihre Freunde täglich ganz nach Wahl besuchen und von deren Arbeit abhalten zu können. Wenn wir so zum Beispiel Leuchtstoffröhren mit dem Baseballschläger zertrümmern, unsinnige Kleinganoverei betreiben oder Bass in einer Band spielen, schafft es Night in the Woods wie kein anderer Titel, den Ausdrücken der Prokrastination, Verdrängung und Ziellosigkeit ein sehr konkretes, extrem bitteres Verständnis zu verpassen.
Das hängt auch damit zusammen, dass wir für unsere Aktivitäten keine Highscores oder ähnlichen Firlefanz erhalten und es uns an jedem Tag bis auf einige storyrelevante Antriebe völlig freigestellt ist, mit welchem unserer Freunde wir etwas unternehmen. Mehrere Durchläufe bieten sich daher durchaus an, denn Night in the Woods erlaubt nur einen Speicherstand und keine Retrys, wenn wir beispielsweise ein Minispielchen verpatzen. Sterben steht allerdings ebenso wenig auf dem Programm und so kommen wir mit Mae schon aufgrund der überschaubaren Setting-Größe flott voran.
Der Ablauf gestaltet sich dabei schnell sehr routiniert: aufstehen, in der Küche mit Mum reden, rausgehen, Freunde aufsuchen, ein paar mehr oder minder optionale Dialoge mit den Einwohnern der Stadt führen, Aktivitäten ausführen, nach Hause kommen, mit Dad plaudern/fernsehen und nach ein paar Chats mit den Freunden schlafengehen. Wer Lust hat, kann sich natürlich auf die Suche nach kleinen Extra-Touren in der Stadt begeben oder ein paar Runden eines netten Retro-Dungeoncrawlers auf Maes PC spielen. Zeitdruck gibt es nie.
Doch Night in the Woods setzt neben all dem auch auf die Mystery-Karte und schickt Mae jede Nacht in eine Traumwelt. Während sich dort allerdings trotz düsterer Atmosphäre keine echte Grusel-Stimmung breitmacht, schleichen sich nach ungefähr der Hälfte der Spielzeit immer mehr unheimliche Vorgänge ein, die Possum Springs zum Ende hin in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen. Zwar steigt die Stimmung niemals wirklich wie in einem waschechten Horror-Game und passieren kann unserer Figur ja nichts, aber da die düstere Atmosphäre des letzten Drittels Hand in Hand mit einigen besonders bewegenden Momenten in der Figurenzeichung von Mae und ihren Freunden zusammenfällt, ergibt dieser Genre-Umschwung je nach Sicht durchaus Sinn. Denn wer sich speziell vom bittersüßen Epilog im Anschluss an die recht drastischen Ereignisse und der generellen Tragik hinter den knuddeligen Charakteren nicht die Augen zumindest anfeuchten lässt, muss schon sehr abgebrüht sein.
Als einzige Schwachpunkte entpuppen sich unter Berücksichtigung der Grundausrichtung des Titels höchstens die naturgemäß häufigen Backtrackings verbunden mit sehr vielen, wenn auch kurzen Ladephasen. Ebenso negativ ins Gewicht fällt der singuläre Speicherplatz, da ein kompletter Neustart nur für ein paar zusätzliche Sequenzen mit einigen Freunden bei der Dauer des Titels kaum ausreichen, um wirklich für ein komplettes Replay zu motivieren.
Fazit
Gerade weil Night in the Woods kein Adventure voller klassischer Spielziele und ähnlichen typischen Elementen ist, wird es im Verlauf seiner Handlung zu etwas besonderem. Hier geht es in aller Ruhe um Themen wie Erwachsenwerden, psychische Instabilität und wie man sich in einer sich verändernden Welt mit sich und seiner Umwelt zurechtfindet. Wohl kaum ein Titel hinterfragt so subtil wie unaufgeregt im Gewand einer nur auf den ersten Blick süßen Comicwelt Missbrauch, Selbstzerstörung, Angst oder Depression. Dass diese Ernsthaftigkeit nicht zum Preis aufgesetzter Rätsel- oder gar Actionsequenzen erkauft wird, ist zwar einerseits ein kommerzielles Wagnis der Entwickler; andererseits verdient Night in the Woods speziell aus diesem Grund ein besonders großes Lob für diese mutige Entscheidung.
In Possum Springs geht es eben primär um realitätsnahe Schicksale, die in ihrer sozialkritischen Dimension nicht hinter Romanen oder anderen Erzählformen zurücktreten müssen. Hier trifft man Nebenfiguren, die etwa kleine Streetpoems darüber zum besten geben, wie Jobs, die früher zum Hauskauf gereicht haben, nun zu Jobs werden, die nur noch für die Miete reichen. Man begegnet Obdachlosen, deren Schicksal trotz aller dialogischen Kürze eben nicht auf Alkoholismus und ähnliche einfache Erklärungsmuster reduziert werden kann. Und man versucht eine Form der Sprachlosigkeit zu seinen besorgten Eltern zu überwinden, die zwischen Liebe und Verletzung sehr viele Register anzubieten hat.
Sicherlich fühlen sich viele Spieler von dieser Art Gameplay schnell angeödet und Night in the Woods hätte auch perfekt als reine Graphic Novel funktioniert. Aber Mae auf ihrem Weg zu begleiten, kann ähnlich wie bei vergleichbaren Adventures a la Oxenfree ein Erlebnis sein, wie man es viel zu selten bei Games findet.
Night in the Woods • Infinite Fall/Finji • Adventure
Abb. © Infinite Fall/Finji
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